Wann wird das sein?


„Yibone ha-mikdosh ir Tziyoyn temale, dann wird das sein“ – singt Márta Sebestyén im titelgebenden Lied des Albums Der Hahn kräht vom Muzsikás Ensemble.


Márta Sebestyén und das Muzsikás Ensemble: Der Hahn kräht (3'06"). Von der CD Der Hahn kräht. Ungarisch-jüdische Volksmusik (1992). – Die CD wurde außerhalb Ungarns unter dem Titel Máramaros: The Lost Jewish Music of Transylvania veröffentlicht.
(Wir haben bereits über dieses Album mit Bezug auf die angeblichen jüdischen Wurzeln des Liedes „Bella ciao“ geschrieben. Das Muzsikás Ensemble besuchte die alten Zigeunermusiker, die auf den Festen der 1944 vernichteten chassidisch-jüdischen Gemeinden von Maramuresch gespielt haben, und von ihnen die Lieder dieser Gemeinden gesammelt.)

Szól a kakas már
Majd megvirrad már
Zöld erdőben, sík mezőben
sétál egy madár.

Micsoda madár,
Micsoda madár
Sárga lába, kék a szárnya
Engem odavár.

Várj, madár, várj
Te csak mindig várj
Ha az Isten néked rendelt
Tiéd leszek már.

Mikor lesz az már,
Mikor lesz az már?
Jibbone ha-mikdos ir Cijon tömale
Akkor lesz az már.
Der Hahn kräht bereits
Bald dämmert es herauf.
In grünem Wald, auf breitem Feld
wandelt ein Vogel.

Was für ein Vogel,
wundervoller Vogel!
gelbe Beine, blaue Flügel,
auf mich wartend.

Warte, Vogel, warte,
warte auf mich immer!
Wenn Gott mich dir bestellt hat
werde ich dein sein.

Wann wird das sein?
Wann wird das sein?
Yibone ha-mikdosh, ir Tziyoyn temale
Dann wird das sein.

Das heißt, wann…?

Vergeblich wenden wir uns für eine Erläuterung an die Broschur der CD. Dort können wir nur die legendäre Entstehungsgeschichte des Liedes in den Worten des Musikwissenschaftlers Bence Szabolcsi lesen:

Der chassidische Rabbiner Eizik Taub kam um 1780 nach Nagykálló als melamed (Lehrer) der Kinder des örtlichen raschekols (des Präsidents der jüdischen Gemeinde), und später wurde er Rabbiner der gleichen Stadt. Ein großer Liebhaber der Natur und ein poetischer Geist, einmal bei einem Spaziergang im Feld hörte er das Lied von einem kleinen Hirten, und er fühlte einen unwiderstehlichen Drang, es zu lernen. So kaufte er das Lied für zwei Forint. Sobald sie das Geschäft abgeschlossen haben, erlernte der Rabbiner das Lied, und der Hirtenjunge vergaß dasselbe. Seitdem fühlen es die Juden von Nordungarn für ihr eigenes Lied, und sie singen es in allen ihren religiösen Festen, weil sie den Text als eine allegorische Botschaft über das Kommen des Messias interpretieren.

Der Zaddik von Nagykálló
Von einem ungarischen Hirtenjunge kann sogar ein Zaddik nur ein authentisches ungarisches Volkslied kaufen. Auch Bence Szabolcsi bestätigt das: Der Hahn kräht „ist, sowohl in seinem Text und in der Melodie, eine nicht allzu bemerkenswerte Variante eines bekannten ungarischen Volkslieds, mit gewaltsam eingefügten hebräischen Zeilen“ („Népdalok“ [Volkslieder], in Az Egyenlőség Képes Folyóirata, 1921). Später werden wir mehr über diese „gewaltsamen Einfügungen“ sagen. Aber zuerst versuchen wir es herauszufinden, wie ein mehr oder weniger typisches ungarisches Volkslied so ein beliebtes chassidisch-jüdisches Lied werden konnte.

Ámos Imre: Auf die Dämmerung wartend, 1939Imre Ámos (1907-1944) aus der chassidischen Gemeinde von Nagykálló: Auf die Dämmerung wartend, 1939

Eine Antwort auf dieses Frage lässt sich in der Modalität dieses Lieds gefunden werden. Jüdische Musik – sowohl Klezmer und liturgische Kantorlieder –, ähnlich wie gregorianische Musik, fußt auf verschiedenen Modi oder Skalen, auf Jiddisch shteygers. Einer dieser Modi, der Ahavoh rabboh – so genannt nach den einleitenden Wörtern des in diesem Modus rezitierten Morgengebets mit dem gleichen Namen – ist besonders beliebt bei den chassidischen Juden. Eine große Zahl von Klezmerstücken chassidischer Herkunft und tish nigunim – auf Schabbat und hohen Feiertagen am Tisch des Rabbiners, oft in ekstatischer Stimmung gesungene Lieder – bauen sich auf dieser Skala.

Der Ahavoh rabboh entspricht einer modifizierten phrygischen Skala – daher sein in der Klezmermusik verwendeter jiddischer Namen, freygish –, wo der dritte Ton um einen Halbton erhöht wird: mi-fa-si-la-ti-do'-re'-mi'. Genau wie die meisten osteuropäischen Volkslieder, hat diese Skala keinen bestimmten „Besitzer“: der spanischer Flamenco nutzt sie und nennt sie „Zigeunerskala“, während sie in der arabischen und türkischen Musik als hijaz maqam bekannt ist. Und ein genauerer Blick auf unseres Volkslied Der Hahn kräht zeigt, dass es auf der gleichen phrygischen Skala mit dem erhöhten dritten Ton gebaut ist. So konnte die jüdische Gemeinde es ohne Änderungen in den Rahmen ihrer eigenen traditionellen musikalischen Welt aufnehmen und sich mit ihm identifizieren.

Hören wir ein Beispiel eines solchen freygishen Stück aus der traditionellen osteuropäischen Klezmerrepertoire: das jiddische Volkslied Az du furst avek – „Als du fahrst weg” in der Aufführung von Joel Rubin (C-Klarinette) und Joshua Horowitz (Tsimbl). Abgesehen von der freygishen Skala, auch die Rubato-Einführung und der langsame, anhaltende, aber strenge Rhythmus bestätigen die Verwandtschaft der beiden Lieder:


Rubin & Horowitz: Az Du Furst Avek (3'23"). Vom Album Bessarabian Symphony. Early Jewish Instrumental Music (1994).
(Joel Rubin und Joshua Horowitz versuchen auf diesem Album, die jüdische Instrumentalmusik der Ende des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Ähnlich wie bei dem aus den Aufführungen der Barockmusik bekannten „historischen Trend“, spielen sie auf historischen Instrumenten, und versuchen es, die authentische musikalische Praxis wiederbeleben, die durch schwankende Rhythmen, reiche Ornamentik, der häufige Gebrauch von Glissandi, und eine an der vokalen Technik viel näher stehende Aufführung gekennzeichnet war. Ihr Album ist jedoch viel mehr als eine einfache Wanderung kultureller Archäologie: es ist eine in sensibler und emotional reicher Weise gespielte, angenehme und lebensvolle Musik.)


Aber kehren wir noch zum Text des Liedes zurück. Abgesehen von der letzten Strophe ist es ein typisches ungarisches Liebeslied. Die Vogelallegorie der Liebhaber ist aus mehreren ungarischen Volksliedern bekannt. Die letzte Strophe ist allerdings eine späte Interpolation, die durch die chassidische Gemeinde – vielleicht durch Eizik Taub selbst – hingefügt wurde, und die das ganze Lied radikal neu interpretiert.

Die hebräische Zeile dieser Strophe ist ein wörtliches Zitat aus einem spätmittelalterlichen Piyut, einem jüdischen liturgischen Gedicht. Das Tzur mishelo genannte Piyut wurde von einem unbekannten nordfranzösischen Dichter nicht später als die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts geschrieben. Das Gedicht verbreitete schnell unter den jüdischen Gemeinden Europas, und es wird immer noch an jedem Schabbat am feierlichen Tisch als eine Einführung zum nachmahlzeitlichen Segen Birkat ha-mazon gesungen. – Es ist interessant festzustellen, dass die heute weit verbreitete Melodie des Tzur mishelo ist auf dem gleichen Modus Ahavoh rabboh gebaut, wie Der Hahn kräht.

Die Strophen des Tzur mishelo folgen die einzelnen Segen des Birkat ha-mazon, die an Gott für die Mahlzeit und für das an den Patriarchen gegebene Land Dank sagen, und dann für das Kommen des Messias und den Wiederaufbau des Tempels flehen.

Der Hahn kräht nahm von diesen Bitten die erste Zeile der letzten Strophe des Piyut: יבנה המקדש עיר ציון תמלא, in aschkenasischen Aussprache: Yibone ha-mikdosh, ir Tziyoyn temale. Das heißt: „Der Tempel wird wieder aufgebaut, und die Stadt von Sion sich wieder bevölkert.“ Dann wird das sein!

Diese Strophe hebt dieses Lied auf den Höhen des Hohenlieds. Wie in der traditionellen rabbinischen Auslegung die Liebhaber des Hohenlieds in allegorischer Weise die Sehnsucht des Ewigen Gottes und Seines Volkes nach einander darstellen, so sehnet der Sänger des Liedes Der Hahn kräht, als Vertreter des jüdischen Volkes in der Verbannung, nach seinen Geliebten, den Ewigen Gott, mit dem er nur in den kommenden messianischen Zeiten, nach der Rückkehr in das verheißene Land und den Wiederaufbau des Tempels von Jerusalem vereinen kann.

Dies ist, wie das beliebteste ungarische chassidische Lied aus der Ehe eines ungarischen Volksliedes mit einer potenziell jüdischer Melodie und einem auf transzendente Höhen erhobenen Liebesgedicht geboren wurde.

Arus ben Shelomo playing on tar. Left panel of a Persian Jewish double portrait, c. 1846Das „Bräutigam“-Stück eines persischen jüdischen Doppelporträts, c. 1846. Seine in persischer Sprache
und mit hebräischen Buchstaben geschriebene Inschrift ist: Târ-zan ʿArus
ben Shelomo
– „ʿArus ben Shelomo spielt auf Tar.

Aber die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Es scheint, dass das Piyut Tzur mishelo eine geheimnisvolle Fähigkeit hat, Liebesgedichte zu inspirieren. Tausend Kilometer südlich von Nagykálló, in sephardisch-jüdischen Gemeinden ist das Tzur mishelo mit einem sehr populären Liebeslied verflochten, obwohl auch hier die Basis der Verwandtschaft eher die Melodie als der Text ist. Sephardische Juden singen auf die Melodie dieses Piyuts das Lied, das sowohl als Los bilbilicos cantan – „Die Nachtigallen singen“ –, und La rosa enflorece – „Die Rose blüht“ – bekannt ist.


Savina Yannatou und das Ensemble Primavera en Salonico: Los bilbilicos cantan – „Die Nachtigallen singen” (4'11"). Vom Album Άνοιξη στη Σαλονίκη (Frühling in Saloniki, 1995).
(Von dieser CD von Savina Yannatou, die die Lieder der ehemaligen sephardischen Gemeinde von Thessaloniki sammelt, haben wir bereits zwei Lieder in zwei Posts, hier und hier geschrieben. Dieses aus anatolischen sephardischen Gemeinden herkommende Lied ist unser dritter Favorit. Das Wort bilbilico, ʻNachtigall’, kommt aus dem türkischen bülbül, und ist mit einem sephardischen Diminutivsuffix vorgesehen, während der Ausdruck „der Mond ist verwundet“ ist eine aus der hohen Literatur entlehnte Formel für den langsam verschwindenden Mond.)

La rosa enflorese
hoy en el mes de may
mi alma s’escurese
firiendose el lunar

Los bilbilicos cantan
con sospiros de aver,
mi alma i mi ventura
estan en tu poder.

Los bilbilicos cantan
en los arvos de la flor,
debacho se asentan
los ke sufren de amor.

Mas presto ven, colomba
mas presto ven con mí,
mas presto ven, keridha,
corre i salvame.
Die Rose blüht
jetzt, im Monat Mai,
meine Seele verdunkelt sich
als der Mond ist verwundet.

Die Nachtigallen singen
mit sensuchtsvollen Seufzern,
meine Seele und mein Schicksal
liegen in deinen Händen.

Die Nachtigallen singen
auf den blühenden Bäumen,
unter ihnen sitzen
die an Liebe leiden.

Eile schnell, Taube,
eile schell zu mir,
eile schnell, meine Liebe,
eile, rette mich.

Rachel painting her eyebrows. Right panel of a Persian Jewish double portrait, c. 1846Das „Braut“-Stück eines persischen jüdischen Doppelporträts, c. 1846. Seine in persischer Sprache
und mit hebräischen Buchstaben geschriebene Inschrift ist: Rahel dar hâl
vasmeh keshidan
– „Rachel malt sich die Augenbrauen.“

Und schließlich hören wir Der Hahn kräht in der Aufführung seines am meisten authentischen Darstellers, Rabbiner Eizik Taubs sechsten Nachkommen in direkter väterlicher Linie: Rebbe Menachem Mendel Taub, der Rabbiner der Kaliver – „aus Nagykálló“ – chassidischen Dynastie. Ich weiß nicht, wie fließend der Kaliver Rebbe in ungarischen Sprache ist, aber in jedem Fall singt er Der Hahn kräht mit einem unverwechselbaren Akzent des Komitats Szabolcs, der traditionellen Region um Nagykálló. In Jerusalem, an jedem Schabbat, in ungarischer Sprache.


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