Von den Fotos von Willy Römer über die Handwerker von Berlin der 1920er Jahren ist ein Beruf auffallend abwesend: derjenige des Schumachers. Zwischen seinen veröffentlichen Fotos habe ich nur das obige gefunden, das keinen wirklichen Schuhmacher, sondern einen Flickschuster darstellt. Das ist kein Wunder. Die Schuhmacherei war ein der ersten Handwerke, die an der Jahrhundertswende Großindustrie geworden waren, und Richard Stade berichtete in seinem Der Niedergang des Schuhmacherhandwerks als Produktionsgewerbe von 1932, dass schon Mitte der zwanziger Jahre konnte das Handwerk nur noch drei Prozent der Neuproduktion bestreiten. Wir lesen dasselbe in der Skizze von Gabriele Tergit, der beliebten Feuilletonistin der Zeit, die zwischen 1924 und 1933 im Berliner Tageblatt eine Reihe mit dem Titel Berliner Existenzen über die charakteristischen Figuren des Berliner Alltagslebens, einschließlich des Schuhmachers, veröffentlichte.
Gabriele Tergit – von ihrem bürgerlichen Namen Elise Hirschmann – wurde 1894 in Berlin, in einer jüdischen großbürgerlichen Familie geboren. Sie lernte Geschichte, Soziologie und Philosophie, und ab 1915 war sie eine der ersten weiblichen Journalisten in Deutschland. Ihre prägnant und eindrucksvoll geschriebenen Gerichtsreportagen – sie berichtete unter anderem über die Preßprozesse von Hitler und Goebbels – machten ihr einen Namen, aber sie schrieb regelmäßig auch über die Berliner Alltäge (und diese Artikel wurden jeweils im Prager Tageblatt nachgedruckt). 1931 veröffentlichte sie auch einen Roman mit dem Titel Käsebier erobert den Kurfürstendamm, in dem sie durch die Welt der Neuköllner Vergnügungslokale über die Macht der Werbung und Propaganda schrieb, mit einer Vorahnung der Propaganda von Goebbels. Aber sie schrieb auch über die Kulturgeschichte der Blumen, deren Titel auch die Kaiserkrone enthält. 1933 gelang es ihr mit einem unglaublichen Glück, der NS-Säuberung zu entkommen und nach London zu fliehen, aber damit wurde ihre Karriere als Schriftsteller, wie von vielen anderen deutschen Flüchtlingen, unterbrochen. In ihrer Heimat wurde sie erst 1977, anlässlich der „Berliner Festwochen” entdeckt. Sie starb 1982 in London. Ihre über die Berliner Alltäge geschriebene Skizzen wurden 1994 mit dem Titel Atem einer anderen Welt: Berliner Reportagen von Jens Brüning bei Suhrkamp gesammelt.
Buhse, der Schuhmacher
Buhse ist Flickschuster und hat seine Werkstatt im Keller eines vornehmen Hauses. In diesem Keller stehen zwei Vertikos mit unzähligen Verlosungs- und Schießbudennippes, Klavier, Kleiderschränke, Sofa, Tisch und Stühle und eine spanische Wand, die die Schlafgelegenheiten verdeckt. Am Fenster ist ein Tritt für die Werkstatt. Schmuck des Zimmers aber ist ein großes gerahmtes Diplom, links unten Gretchen oder Evchen am Spinnrocken, um den Putten ein Band flattern lassen, und rechts hält eine Frauengestalt – die Freiheit oder Elektrizität oder das Gewerbe – eine Fackel hoch. Das Ganze ist das Diplom zu einer silbernen Medaille der 35. Schuhmacherausstellung zu Biesteritz.
Buhse ist der Sohn eines Tischlers in Pasewalk. Als er 25 Jahre alt war, hatte er die Jungfer der Gräfin Zetlitz geheiratet und als Hochzeitsgeschenk eine goldene Pendule bekommen. Sie hielt ihren Haushalt herrschaftlich und sprach nicht mit der Portiersfrau. Buhse machte Stiefeletten und Saffianpantöffelchen und Zugstiefel. Mit der Zeit kamen immer weniger Neuanfertigungen und immer mehr Besohl- und Flickarbeit an Schuhen, die er selber viel besser gemacht hätte. Als die ersten grauen Haare kamen, färbte er sie schwarz. Sein Sohn hatte ein liederliches Mädchen geheiratet und verkam. Buhse blieb eine Enkelin, die früh heiratete und das erste Kind bekam. So hatte er noch Kindergeschrei in dem engen Keller auf seine alten Tage.
Im I. Stock sagte die Frau Konsul zu ihrem Gatten: »Ich habe noch nie einen so guten Schuster gehabt, dem würde ich sogar meine Seidenpumps anvertrauen.« Der Konsul sah von seiner Zeitung auf: »Ja, ja, gute Handwerker sind selten geworden. Solche Leute muß man unterstützen, man müßte ihm etwas zu verdienen geben.« So bekam nach 12 Jahren Meister Buhse einen Auftrag auf neue Stiefel. Er kam mit einem Bogen Papier und einem Bleistift bewaffnet. Es wurde Maß genommen.
Von früh bis abends lief Buhse durch die Lederhandlungen und sah sich Kalbfelle an. Er verstand sich auf Leder. Wenn er zu spät zu Tisch kam und die Enkelin keifte, so lächelte er nur, er handelte lange, aber dann hatte er es, das tadellose Stück Kalbfell, dieses Gedicht, dieser Traum, dieses Ideal von einem Kalbfell. Kein bißchen Pappe kam in die Stiefel.
»Mein lieber Herr Buhse«, sagte der Herr Konsul, »es tut mir sehr leid, die Stiefel sind viel zu eng. Sehen Sie zu, daß Sie sie ändern, sonst…« – »Aber ich bitte«, fiel ihm Meister Buhse ins Wort, »ich werde selbstverständlich ein Paar neue machen.« Buhse versuchte zu ändern. Es gelang nicht. »Das kommt davon«, sinnierte er, während er ein Paar neue begann, »das kommt davon. Da sitzt man nun und sitzt und quält sich, damit man die Münder stopfen kann und für die Miete und die Steuer, und dabei verlernt man alles und flickt ewig und macht Hacken gerade und besohlt und beflickt, und wenn mann dann wirklich einmal zeigen könnte, was man kann, dann kann man nichts mehr.« Das zweite Paar wurde vollendet.
»Meine Liebe«, sagte der Konsul zu seiner Frau, »ich kann die neuen Stiefel von Buhse auch nicht tragen, sie drücken.«
»Ich sage es ja«, erwiderte die Frau triumphierend, »was du für die rückständigen Handwerker übrig hast, man kann gar nicht genug Fenster aufmachen.« Sie hat in ihrer JUgend sehr viel Ibsen gelesen. Buhse wartete. Auf eine goldene Medaille für das Musterpaar als Kalblederstiefel oder auf seine Ernennung zum Innungsmeister oder auf den gerührten Besuch des Herrn Konsul: »Ihre Stiefel! Wie eine Biene läuft man damit! Meine sämtlichen Bekannten lassen nur noch bei Ihnen arbeiten.« Zwei Wochen vergingen, da stellte sich Buhse ihm in den Weg. »Sie sind ja ganz schön gearbeitet«, sagte der Konsul, »doch sie drücken etwas. Aber man kann sie ganz gut tragen«, sagte er, als er Buhses Gesicht sah.
»Sie merken eben nichts«, dachte Buhse, »ob du Pappeinlage nimmst oder gutes Leder, ob du ordentlich mit einer Stahlschiene arbeitest oder nicht, sie merken nichts, sie merken nichts, es ist ihnen alles egal.« Abends saßen Koller, der Tapezierer Koller aus der Gneisenaustraße, und der Tischler Koblank zusammen. »Sie merken nichts«, sagte Buhse, »ob man Pappeinlage nimmt oder gutes Leder, ob man ordentlich mit einer Stahlschiene arbeitet oder nicht, sie merken nichts.« »Ja«, sagte Koller, »kaufen die Chaiselongues für 39,40 Mark. Haben ja keine Ahnung. Ich weiß, wie’s gemacht wird, am Abend wird die Werkstatt aufgekehrt und die abgefallene Wolle, aller Dreck zusammengekehrt, immer mang die Füllung genommen. Die Menschen sind ja so dämlich, besonders die Damen, huppen mal so’ bißchen drauf, sehen sich den Stoff an und sagen: >Die is aber wirklich preiswert!< Von Inwendig verstehen sie ja nichts.«
Koblank antwortete: »Gestern ist der Einkäufer von Morgentau wieder dagewesen. Nur billig, is dem ganz egal, ob das Holz reißt nachher oder nicht, doppelt verleimt macht kein Mensch mehr. Die Menschen sind so dumm, wenn’s lange dauert, dann sind sie unzufrieden, statt sich zu sagen, der Mann macht gute Arbeit.«
»Aber wenn sie Ballen haben und verkrüppelte Zehen, dann haben sie vielleicht ein Einsehen«, sagte Buhse, der Schuhmacher.
»Auch dann nicht«, sagte Koller und gab ein à tout aus.
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