Wie die Namen, so lagern sich auch die Schichten der Geschichte in der Stadt aufeinander. Die Straßenschilder zeigen alle Namenversionen, so dass jeder denjenigen den er mag finden könnte, und es ist auch nicht einmal klar, welcher der alte und welcher der neue ist. Die zu Ehren von General Dolgoruky, der Eroberer von Simferopol im Jahre 1771 errichtete Säule steht neben dem Alexander Nevsky-Kathedrale, nach dessen klassizistichen Formen niemand sagen würde, dass die erst vor kurzem wieder aufgebaut wurde: das Original wurde 1930 gesprengt, und bis 2003 der Tank des Sieges stand an seinem Platz. Im zentralen Lenin-Platz die Statue des Namensgebers steht noch, aber die in Stalin-Barock gebauten administrativen und kulturellen Gebäude um ihr herum verfallen schon leer, und sofort hinter ihrem Rücken beginnt das ehemalige Industrie- und jetzt Elendviertel.
Entlang der Karäerstraße nach Norden wandernd teste ich die Macht der Namen, Erinnerungen zu bewahren. Gleich am ersten Ecke sehe ich einige archaischen, zum Industrieviertel nicht passenden Bögen, diejenige der charakteristischen Portikus einer karaischen Synagoge, einer Kenasa (über die Karäer und ihre Kenasa bald werden wir mehr schreiben). Der Portikus war wohl zwischen 1891 und 1896 zugemauert, wenn man die neue, größere Kenasa daneben gebaute, die, im Bruch mit den Traditionen, in einem „europäischen“, orientalischen Stil errichtet wurde.
„Guten Tag“, sage ich zum Pförtner. „Ich nehme Fotos von alten Synagogen, würden Sie bitte mir erlauben, einzugehen und ein paar Bilder auch hier zu nehmen?“ „Aber das ist keine Synagoge!“, sagt er erstaunt, und als Beweis verweist er auf die Fassade, wo der Stern tatsächlich ein Zweig weinger als nötig hat.
Die Kenasa wurde am 5. März 1930 geschlossen, und in 1936 dem Radio (später Radio und Fernsehen) Krim für Studio zugeteilt. Bis heute blieb sie ihr Sitz, mit einer kurzen Unterbrechung, wenn, zwischen 1941 und 1944, die deutsche Armäe sie für Ställe verwendete. Die karaische Gemeinde fordert nun sie zurück, und sie haben bereits erreicht, dass am 7 Oktober des vergangenen Jahres, am Laubhüttenfest, könnten sie nach 82 Jahre wieder auf der obersten Etage des Gebäudes anbeten.
Ich mache einen kleinen Test. Ich gehe um den Gebäudeblock, auf der Suche nach den besten Aufnahmewinkel, und in den Höfen frage ich die Leute, ob sie wissen, wo es hier eine alte Synagoge gab. Niemand weiß es.
Um die Ecke, der Name der Straße ändert sich für Kaukasus. Auf den ersten Blick erscheint nur der Turm der Tatarenmoschee hinter dem leeren Grundstück, aber wenn man besser auf dem Gründstück umschaut, so findet man ein anderes zerstörtes und für Wiederaufbau wartendes Denkmal, an dem sich der Straßenname bezieht. Ein Khatschkar, ein von Eriwan geschicktes armenisches Kreuz und eine Inschrift beweisen diese Absicht in der stelle der ehemaligen armenischen Kirche. Und das bedeutet auch, dass es in der Stadt genügend Armenier gibt, um diese Absicht ernsthaft zu denken.
„An diesem historischen Ort wird sich die Kirche der Dormitio der allerheiligsten Gottesmutter der Armenischen Apostolischen Kirche wieder beleben."
Ein wenig weiter ein nicht sehr erfolgreich entwickelter Glockenturm lenkt unsere Aufmerksamkeit. Nach seiner Inschrift wurde es zum Gendenken des Heiligen Lukas, Bekenner, und Erzbischof von Krim (1877-1961) errichtet. Der Erzbischof war ein erfolgreicher Kliniker aus einer adligen Familie, der 1923 im Geheimen zum Priester, und später Bischof geweiht wurde, und damit sein ganzes Leben lang viel Verfolgung durch die Behörden leiden mußte. Der Glockenturm wurde 2001 am Ort der Verkündigungskapelle gebaut, wo Erzbischof Lukas bis zu seinem Tod betete, und die in den 1960er Jahren abgerissen wurde.
Die Straße auf der rechten Seite nach dem Glockenturm hieß ursprünglich Tatarstraße. Erst in den 1930er Jahren erhielt er den Namen des russischen Revolutionärs V. Volodarsky, dessen ursprünglicher Name war übrigens auch anders: Moisei Markovitsch Goldstein. Hier hat im Jahre 1508 Mengli Giray Khan, der das Krimkhanat konsollidierte, die Weiße Moschee gebaut, die Simferopol ihren ersten bekanten Namen gegeben hat. Die Mosche wurde 1907 in gemessenen türkischen Stil umgebaut, damit ebenso den Geschmack der bestimmenden ausländischen religiösen und kulturellen Zentren folgend, wie es im Fall der Synagoge passierte. Wir haben auch zwei Postkarten aus diesen Jahren, die zeigen, wie es war und wie es geworden ist.
„In der Stadt gibt es 1800 Häuser, darunter viele zwei- und dreistöckige, eine gute Anzahl von Geschäften, vier Karawansereien, fünf Moscheen…“ (Evliya Çelebi, 1666)
Die Metamorphose der Moschee setzte sich fort auch danach. In den 1930er Jahren wurde sie geschlossen, und nach der Deportation der Krimtataren in 1944 begann es zu verfallen. Es hat sich fast vollständig ruiniert bis 1991, wenn die rückkehrende Tataren begannen es, um ihr zu kümmern. Heute steht sie wieder in ihrem alten Glanz – auch wenn sie den während der sozialistischen Ära bebauteten Ziergarten nicht wiedererhalten konnte –, und als Sitz des Mufti der Krim gilt sie als das religiöse Zentrum der Krimtataren.
Das Gedächtnis der ehemaligen Orten wird durch Namen erhalten, sowie durch die kollektive Erinnerung der Gemeinden, die nach der Zestörung große Anstregungen machen, diese Orte neu zu erstellen. Dabei bietet sich ein Hoffnungsschimmer, dass Simferopol wieder zur Stadt des Gemeinwohls werden kann.
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