Ein Sprachenjäger, ein Legendenjäger

Ich suchte etwas ganz anderes auf dem Regal, wenn ich meine zerfetzte Taschenausgabe von „Märchen und Legenden von Sistan”, eine kommentierte Ausgabe der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften entdeckte – und ich war überrascht zu erkennen, dass ich noch ein paar Verse der schönen russischen Übersetzung rezitieren konnte, und dass ich noch daran erinnerte, wie das Buch-Projekt geboren wurde nach der überraschenden Entdeckung einer sistanischen Legendenerzähler, der seit Jahrzehnten in einer kleinen Stadt in Turkmenistan lebte. Die Details aber waren schon unscharf, deshalb habe ich wieder dem Linguist und Dichter nachgesehen, der diese Geschichten aufgezeichnet und übersetzt hat. Einige sind kanonische Rustam-Legenden aus der Schahname, dem Buch der Könige, andere bislang unbekannte Legenden, die als historische Erzählungen erzählt wurden, und noch andere Volksmärchen, die sich in ihren eigenen Kanon fügten.

A. L. Gruenberg-Cvetinovic
(in der westlichen Transliteration auch als Aleksandr Grjunberg bekannt)
Aleksandr Gruenberg-Cvetinovic war eine fascinierende Figur, ein Iranist und ein obsessiver Feldforscher, die unzählige kleine Sprachen in den abgelegenen Bergtälern des Kaukasus und Zentralasien dokumentierte, und viele Legenden und Volksgedichte übersetzte.

Mit 22 schloss er sein Studium der iranischen Linguistik an der Universität Leningrad ab. Im Jahr 1953 begann sein Studium am Institut für Sprachwissenschaft. Seine PhD Dissertation beschäftigte sich mit der Sprache der Tat von Nord-Aserbaidschan, die in einer Reihe von semi-isolierten Bergdörfer lebten. Im Gegensatz zu den damals zahlreicher jüdischen Tat von Dagestan, ein Teil der aserbaidschanischen Tat waren Schiiten, und andere armenischen Christen. Eine Gruppe, die berühmten Kupferschmiede von Lahidsch, noch hielten sich für Nachfolger der Persen, die in den legendären Zeiten des Schahname-Königs Kai Khosrow hier übersiedelt wurden.

Kupferschmied in Lahidsch bei der Arbeit, aus einem Reisebericht von 2011

Aber das meisten exotische Abenteuer des jungen Studenten passierte im Jahr 1958, in den Bergen von Badakhshan, Tadschikistan, auf der Yeti-Expedition der Akademie der Wissenschaften, die sich schell in eine Jagd nach die Sprachen und Folklore der Badakhschan-Bergbewohner entwickelte. Obwohl die westliche Welt die post-Everest Yeti-Begeisterung in 1955-56 schon überstanden hatte, war Russland in seiner üblicher Weise ein paar Jahre zurückgeblieben. Vladimir Obrutschev, der neunzig Jahre alt Patriarch der russischen Geologie brachte eine gewisse Unterstützung für die Hypothese des in den Bergen von Pamir – „das Dach der Welt”, wie man es stolz nannte – lebenden Yeti zusammen. Kirill Stanjukovitsch, ein renommierter Geobotaniker und Science-Fiction-Schriftsteller berichtete, dass ihm die Einheimischen über einen „wilden Mann” gesprochen hatten, den sie golub-yavan oder möglicherweise gul-bayavan nannten. Und im Jahr 1958 wurde Stanjukovitsch zum Leiter einer Expedition ernannt, an der irgendwie kein Primatenforscher Teil nahm – nur zwei Iranisten.

Der Sarez-See, der vermeintliche Lebensraum des golub-yavans, nach Kirill Stanjukovitsch
Aleksandr Gruenberg schloß der Expeditionsgruppe von Anna Rozenfeld an, die auch in Sankt Petersburg geboren wurde, aber eine Generation früher, und die auch Iranistin, Dialektforscherin, Folkloristin und Übersetzerin von Volksmärchen war. Anna Rozenfeld war ein Yeti-Skeptiker, die die Yeti-Frage als eine Gelegenheit für volkskundliche Sammlung auffasste. Zur Gruppe gehörten auch zwei Mitglieder ohne iranistischen Hintergrund: die junge Journalistin Valentina Bianki, Nichte des berühmten Naturforschers und Kinderbücher-Autors Vitalij Bianki, und der 55 Jahre alt Historiker und Soziologe Boris Porschnew, damals schon Vorsitzer der Abteilung westeuropäischer Geschichte am renommierten Institut für Geschichte, aber für die Nachwelt am besten für seine Yeti-Begeisterung bekannt. Jedes Mitglied der Expedition veröffentliche seinen eigenen Bericht über die Pamir-Abenteuer, aber es waren Porschnews Bände, die sie wirklich verewigten. Stanjukovitsch hat natürlich fiktive Geschichten über den Schneemann veröffentlicht, wo am Ende war es überhaupt nicht klar (wie in den echten Märchen), wie viel er aus den Erfahrungen der Expedition schöpfte, und wie viel seine Erfindung war. Die Rozenfeld-Gruppe forschte Pamiri-Sprachen, wie Vakhan, Shugnan, Rushan und Ishkashim, aber es stellte sich auch heraus, dass einige Chitrali-Stammesangehörige aus den südlichen Hängen des Hindukusch in Badakhshan lebten, als isolierte Nachfahren von den Sklaven, die im 19 Jahrhundert durch die berüchtigten zentralasiatischen Sklavenjäger entführt wurden.

Die Badakhshan-Bergketten und Dörfer, aus einem Reisebericht von 2012


Die Aufmerksamkeit von Gruenberg wandte sich daher zu den isolierten Diasporen der ethnischen Gruppen, deren Urheimat südlich der sowjetischen Grenze lag, aber die innerhalb der Grenzen der Sowjetunion studiert werden konnten. Zwischen 1958 und 1960 endteckte und dokuentierte er die Teymuri-, Jamshidi- und Sistani-Populationen in Saraghs und Kushka, im Süden von Türkmenistan. Dann hatte er die einmalige Gelegenheit, die seltenen Sprachen der Hindukusch-Täler zu studieren, als Übersetzer des afganischen Ministeriums für Bergbau. Zwischen 1963 und 1968 führte er umfangreiche Feldforschung im entlegenen Nuristan, dem legendären Zufluchtsort der Truppen von Alexander der Große, und dokumentierte zum ersten Mal Sprachen wie Munjani, Glangali und Kati. Leider erwartete ein großer Teil seines Feldmaterials noch Verarbeitung am Zeitpunkt seines plötzlichen Todes im Jahr 1995. Ein anderes unverwirklichtes Projekt war die gemeinsame Entwicklung zusammen mit der afganischen Akademie der Wissenschaften eines Dari-basierten Alphabets für Baludschi, Kafiristani, Pamiri und Pashai.

Saraghs-Baba-Mausoleum, Türkmenistan, 1024
Das tragbare Tonbandgerät revolutionierte die volkskundliche Sammlung, und im Jahr 1975 kehrte Gruenberg in Saraghs zurück, um die epischen Geschichten seines Sistani-Informanten Ismail Jarmamedov aufzunehmen. Ismail, geboren in 1915, gehörte zur ersten Generation der in Saraghs lebenden Sistanis. Gruenbergs poetische russische Übersetzungen von Jarmamedovs Märchen stellen mein geliebtes Buch von 1981 dar. Der Rustam-Zyklus der Sistani-Legenden ist ungewöhlich, als es aus teilweise rhythmisiertem Prose besteht, mit Gedichteinlagen. Die archaische Wortschatz und die einzigartigen wiederkehrenden verbalen Formeln und Wendungen der Handlung weisen darauf, dass er eine alte mündliche epische Tradition folgt, die an der Wurzel ganz verschieden von Firdausis Schahname sein kann. Da Rustam ein legendärer Held aus Sistan ist, und da in der sistanischen Version viele Namen und Ortstnamen anders klingen, Gruenberg meinte, dass dieser Legendenzyklus geht zu einem pre-Firdausi lokalen Epos zurück.

Angeblich ein trockener akademischer Aufsatz, ist das Buch der Märchen und Legenden von Sistan so wunderbar poetisch, dass es 75.000 Druckexemplar erreichte, und gewann eine riesige Popularität. Aleksandr Gruenberg nahm auch an zahlreichen anderen Übersetzungen zentralasiatischer Volkssagen und Märchen teil, oft ausdrücklich ihre poetischen Einlagen übersetzend. Er hat mit Hunderten von wunderbaren Versen zur Übersetzung von tatischen, türkischen und pamirischen Legenden und iranischen „anonymen Märchen” beigetragen. Die folgende wörtliche Übersetzung natürlich spiegelt nichts von ihrer Schönheit, aber für einen kleinen Vorgeschmack Gruenbergs Stil, stehe hier ein kanonisches Vorwort der Schahname-Kapiteln sowie anderer epischen sistanischen Geschichten:

Голос донесся с бескрайних небес,
с синего купола дальних небес:
«Мудрый рассказчик, дервиш-острослов
не надевает на слово оков;
страстным влюбленным, тоской обуянным,
мчится оно фарсанг за фарсангом,
ловко, как заяц, и сладко, как мед...».
Шайтан приказал нам посеять табак,
куришь — погибнешь, погибнешь и так!
Курит Аббас, что в Иране царем,
пусть себе курит, да дело не в нем...
Слова — это шерсть, я же войлок валяю;
слова — молоко, я же масло сбиваю.
Ложь безграничная — вот мой рассказ.
Верблюд на блохе едет в город Шираз.
Ива и тополь, сосна и чинар
 сладких плодов не приносят нам в дар;
гранат и айва, померанец и тут
сочные щедро плоды нам дают.
Хлебом пусть станет вершина Ходжа,
в мясную шурпу Хильменд превратится.
Явился старик, чтоб шурпой подкрепиться.
«Много не съесть мне,— старик говорит.—
Стар я, устал я, и почка болит.
Съел я три сотни бараньих голов,
ножек без счета — а все же не сыт!»
Eine Stimme wurde aus dem grenzenlosen Himmel gehört,
aus der blauen Kuppel des fernen Himmels:
„Weise Geschichtenerzähler, scharfzüngiger Dervisch
stell dein Wort frei, fliege es wie du wünschst,
jage es wie en sehnsuchtsvoller Liebhaber,
viele Parasangen auf einmal ablaufend,
flink, wie ein Hase, und flüssig, wie Honig!
Teufel gab uns Tabak und lehrte seinen Genuß.
Rauchen tötet dich, aber du wirst sowieso sterben.
Abbas, Schah von Iran hat auch geraucht, aber
lass ihn sein, denn diese Geschichte ist nicht über ihn.
Worte sind Wolle – ich mache Filze davon;
Worte sind Milch – ich mache Butter davon.
Meine Geschichte ist auch unmöglichen Lügen gespinnt,
ein Kamel reitet auf einem Floh in Shiraz.
Pappel und Weide, Zypressen und Pinien
geben uns keine Frucht zu speisen;
Granatapfel und Quitte und Maulbeerbäume
gefallen allen mit ihren süßen Früchten.
Wandle der Hojja-Berg in ein Haufen Brot um,
wandle der Helmand-Fluß in Lammsuppe um!
Ein alter Mann kommt für die nahrhafte Suppe.
Ich kann nicht viel essen, so sagt der Alte,
ich bin müde und schwach, und mein Bauch tut weh,
Ich aß ganze Haufen von gekochten Lammfleisch,
ich aß dreihundert Lammköpfe,
aber ich möchte noch ein bißchen mehr.”


In den letzten Jahren hat das Hozeye Honari Musical Center in Teheran in 32 CDs eine umfassende Sammlung der lebenden Schahname- und epischen Tradition aus den verschiedenen Provinzen des Iran veröffentlicht. Wir haben nur sechs der zweiunddreißig, und die sistanische CD ist nicht unter ihnen. Hören wir stattdessen diese lokale Version des Schahnames von einem lorestanischen (Westlicher Iran, Zagros-Gebirge) Geschichtenerzähler.

Ein alter Schahname-Sänger, Iran

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