Das armenische Alphabet


Trotz seines Alters – nächstes Jahr wird er achtzig sein – ist Andrej Bitow eine prominente Figur der russischen postmodernen Literatur. Seine Sammlung von surrealistischen Kurzgeschichten Дворец без царя (Palast ohne Zar) wurde mit dem Iwan Bunin Preis ausgezeichnet. Allerdings war sein erstes bedeutendes Werk die 1978, im Alter von neunundvierzig veröffentlichten Уроки Армении (Armenische Lektionen), in dem er die während seiner armenischen Reise gesammelten alltäglichen Beobachtungen und Reflexionen in eine subjektive Enzyklopädie zusammenstellt. Im vergangenen Jahr gewann dieses Buch den Yasnaya Polyana Preis, eine der angesehensten russischen literarischen Anerkennungen. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Teil des Eintrags „Alphabet“.


„Allerdings war es wenn nicht die erste, so die zweite Frage, di mir auf armenischem Boden gestellt wurde: „Na, wie gefällt dir unser Alphabet? Sehr, nicht? Sag mal, aber ehrlich, welches gefällt dir besser, deines oder unseres?“

Es ist ein großartiges Alphabet: wie der Laut exakt der graphischen Darstellung entspricht! Alles bildet ein Ganzes und schließt sich zum Kreis. Das Zupackende des armenischen Sprachklangs („eine Wildkatze, das Armenische“, sagt Mandelstam) entspricht dermaßen dem Gußeisernen der armenischen Buchstaben, daß das Wort, in Schrift gefaßt, wie eine Kette klirrt. Und dermaßen klar stelle ich mir vor, wie diese Buchstaben in der Schmiede entstehen: geschmeidig biegt sich das Metall unter den Hammerschlägen, der Zunder platzt ab, und zurück bleibt jene schillernde Bläulichkeit, die für mich jetzt in jedem armenischen Buchstaben aufscheint. Mit diesen Buchstaben kann man lebendige Pferde beschlagen. Oder diese Buchstaben sollten aus Stein gehauen werden, denn Stein ist in Armenien so natürlich wie das Alphabet, sowohl Geschmeidigkeit wie Härte des armenischen Buchstabens stehen zum Stein nicht im Widerspruch. Und die obere Krümmung des armenischen Buchstabens gleicht so exakt der Schulter der alten armenischen Kirche oder ihrem Gewölbe, wie diese Linie auch in den Umrissen seiner Berge vorkommt und wie diese widerum den Linien der weiblichen Brust gleichen – dermaßen allgemeingültig ist für Armenien diese erstaunliche Verbindung von Härte und Weichheit, Starre und Geschmeidigkeit, Männlichem und Weiblichem, in der Landschaft wie in der Luft, in den Bauten wie in den Menschen, im Alphabet wie im Sprachklang.

Diese Alphabet wurde von einem genialen Menschen mit überwältigendem Gespür für seine Heimat erschaffen, wurde einmal und für alle Zeiten erschaffen – es ist volkommen. Jener Mensch war ein Ebenbild Gottes in den Tagen der Schöpfung. Als er das Alphabet erschaffen hatte, faßte er den ersten Satz in Schrift:

Ճանաչել զիմաստութիւն եւ զխրատ, իմանալ զբանս հանճարոյ

Čanačʿel zimastutʿiwn ew zxrat, imanal zbans hančaroy

In diesem Fall bedeutete der Satz auch, was da niedergelegt war:

Dass man Weisheit und Unterricht erlerne und verständige Reden verstehe.

(Sprüche Salomos, 1:1-2)

Als er das in Schrift gefaßt (eben nicht geschrieben, nicht gezeichnet) hatte, entdeckte er, daß ein Buchstabe fehlte. Darauf erschuf er auch diesen Buchstaben. Und seit der Zeit „steht“ das armenische Alphabet.

Für mich gibt es nichts Überzeugenderes als eine solche Geschichte. Man kann sich einen Menschen ausdenken, und man kann sich einen Buchstaben ausdenken, aber man kann sich nicht ausdenken, daß einem Menschen ein Buchstabe gefehlt hat. Das kann nur so gewesen sein. Also gab es auch den Menschen. Er ist keine Legende. Er ist ebenso eine Tatsache wie dieses Alphabet. Sein name ist Mesrop Maschtoz.

Ich würde Maschtoz ein Denkmal setzen in Gestalt jenes letzten Buchstabens, als steiernen Beweis, daß er recht hatte.“

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Allerdings sind den Armeniern alle Buchstaben gleichsam wichtig. Deshalb gedenken sie Maschtoz mit den Statuen jedes, in der Form der mittelalterlichen Khatschkar geschnitzten Buchstabe in Oshakan, im von ihm gegründeten Kloster, wo sein Grab ist eine Pilgerstätte allen armenischen Gläubigen, sowie in der nähe, im „Feld der armenischen Alphabet”.

Die anderen Bilder sind vom Kloster Ganzasar, Karabach, wo Maschtoz seine erste Klosterschule für den Unterricht der armenischen Schrift gründete

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