Schuscha, die Stadt der Wunder


„Als unsere berühmte Vorfahren, ach, Khan, in dieses Land kamen, wo sie einen großen und gefürchteten Namen erworben, schrien sie auf: „Kara bak!“ – „Siehe, dort gibt es Schnee!“ Seitdem heißt das Land Karabach. Sein älterer Name war Sjunik. Weil du musst wissen, ach, Khan, dass unsere Heimat ist sehr alt und berühmt. Die Karauli, dunkle Geister leben in unseren Bergen, und sie hüten unermessliche Schätze. Unsere Wälder haben heilige Steine, und heilige Quellen entspringen dort. Wir haben alles. Geh in die Stadt, und schau dich um – arbeitet jemand? Fast niemand! Ist jemand traurig? Niemand! Ist jemand nüchtern? Niemand! Du wirst erstaunt sein, mein junger Herr!

Ich war in der Tat erstaunt, an wie große Lügner diese Leute sind. Es gibt keine Märchen, die sie nicht erfinden würden, um ihre Heimat zu verherrlichen. Erst gestern versuchte ein stattlicher Armenier mich davon zu überzeugen, dass die christliche Kirche von Maras in Schuscha 5000 Jahre alt sei.

Schuscha ist die Stadt der Wunder. Sie wurde in den Bergen, auf einer Höhe von fünftausend Meter gebaut, in der Umarmung von Wälder und Flüsse. Armenier und Muslime leben hier friedlich nebeneinander. Seit Jahrhunderten war sie eine Brücke zwischen den Ländern des Kaukasus, Persien und der Türkei. Mit liebenswürdig kindlicher Übertreibung nennen die Einheimischen ihre kleine Lehmhütten „Paläste“. Sie sind nie müde, vor ihren Türen sitzend und ihre Pfeifen rauchend wieder und wieder aneinander zu erzählen, wie die Generäle von Karabach das russische Reich und den Zar selbst gerettet haben, und was für ein schreckliches Schicksal sie geschlagen haben würde, wenn sie ihren eigenen Schutz an jemandem anderem vertraut hätten.“


Kurban Said: Ali und Nino, 1938. (Der in Pariser Exil geschriebene
aserische Roman erzählt über der pre-1914 Schuscha)


Am späten Nachmittag kommen wir in die Stadt Schuscha, in Aseri Şuşa, in Armenisch Schuschi. Die Lehmhütten sind längst verschwunden, und sowjetische Wohnblocke besetzen ihren Platz. Von den Palästen, den im 18. und 19. Jahrhundert von geschnitzten Stein gebauten zweistöckigen Häusern stehen viele noch in der Altstadt. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie ganz oder teilweise ohne Dächer und ausgebrannt stehen.

Als wir auf den steilen Straßen heraufklettern, verstehen wir, warum Schuscha der Schlüssel zu Stepanakert im Karabach-Krieg war, warum die aserbaidschanische Artillerie noch im Februar 1992 hier anhielt, als die armenische Armee bereits in die benachbarte Khojaly marschierte, sie von ihrem Flughafen abschneidend und die aserische Bevölkerung der Stadt erschlagend; warum das armenische Hauptquartier in Stepanakert es übernahm, die Bergstadt auf Kosten eines massiven Blutverlusts zu belagern und einnehmen, und warum die Zerstör8ng von 8-9 Mai, des Tages des Sieges, auch ihnen den Sieg über Karabach brachte. Wir schauen von den Resten der Stadtmauer nach unten. Sechshundert Meter unter uns, nur wenige Kilometer entfernt liegt die Hauptstadt von Karabach, die die aserbaidschanische Artillerie vom 10. Januar ab vier Monate lang bombardierte, fast alle Häuser zerstörend, und etwa zweitausend Zivilisten tötend.

Der Hauptgrund für die Zerstörung von Schuscha war nicht so sehr die kurze Belagerung, sondern die armenische Zivilisten, die die Invasionsarmee folgend die Wohnungen der aserischen Bevölkerung, die aus die Stadt geflohen waren, geplündert und niedergebrannt haben. Aber dies war nicht die erste Zerstörung von Schuscha in diesem Jahrhundert. Nach dem ersten Weltkrieg, während des territorialen Konflikts zwischen der kurz unabhängigen armenischen und aserbaidschanischen Staaten, am Ende März 1920 haben die aserbaidschanische Armee und die aserischen Einwohner von Schuscha für drei Tage die armenische Bevölkerung der Stadt massakriert und das Armenierviertel zerstört. Von den von Kurban Said gelobten siebzehn Kirchen blieben nur zwei, die, aus Mangel an Gläubigen, das sowjetische System in Lagerhäusern umgewandelt überlebten. Von den 45 tausend Bewohnern der Vorkriegszeit blieben nur fünftausend. Deshalb konnte Ossip Mandelstam so spät wie 1931, während seiner kaukasischen Reise diese Zeilen aufzeichnen:

…Так, в Нагорном Карабахе,
В хищном городе Шуше
Я изведал эти страхи,
Соприродные душе.

Сорок тысяч мертвых окон
Там видны со всех сторон
И труда бездушный кокон
На горах похоронен.
...Und in Nagorno-Karabach,
in der zerstörten Stadt Schuscha
sah ich Dinge, die ebenso
schrecklich für die Seele waren.

Vierzigtausend tote Fenster
gähnen auf jeder Seite, und der
leere Kokon der ehemaligen Arbeit
als Friedhof auf dem Berg liegt.

Shusha, Ruinen des armenischen Viertels, um 1920

Heute ist die Situation umgekehrt. Die armenische Kathedrale wurde restauriert, ebenso wie mehrere Häuser in ihrer Nachbarschaft. Hier leben die viertausend Einwohner der Stadt – die vor 1992 15.000 Menschen hatte –, vor allem aus Aserbaidschan geflüchtete Armenier. Heute ist es das aserische Viertel, das tot ist.

Auf den ehemaligen Marktplatz ankommend fühlt es, als ob wir die Stadt verlassen hätten. Die Asphalt endet, wir stolpern im Schlamm, zwischen tiefen Pfützen von schmelzendem Schnee. Die Fenster der sowjetischen Wohnblücke gähnen schwarz und leer. Dem sowjetischen Kulturhaus ist nur die Fassade mit dem Stalinbarock-Tympanon geblieben. Am Ende des Platzes steht noch die 1787 gebaute Obere Moschee. Die schwarze Plakette vor ihr gibt es bekannt, dass sie unter staatlichen Schutz steht. Tatsächlich wurde der kleine aserische Friedhof in seinem Garten, im Gegensatz zu dem Friedhof von Julfa, nicht verwüstet. Der staatliche Schutz schützt aber nicht von der Zeit, die die Mosaikbedeckung der Minarette und die Bögen und Ziegelfassade der Moschee langsam zugrunde richtet. Auf Fotos aus 2007 haben die Minarette noch ihre Dächer. Heute sehen wir nur eine seltsame Struktur an ihrer Stelle, die wahrscheinlich zur Abhebung der Dächer diente, wenn sie bereits in Gefahr gerieten, von selbst zu fallen.

Schuscha, Obere Moschee, 1988

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Unter dem Marktplatz, hinter dem ehemaligen Kulturhaus liegt die 1874 gebaute Untere Moschee, jetzt in ähnlichem Zustandt. Kinder spielen im Hof. Wenn sie uns erblicken, wenden sie sich an uns mit einem unerschrockenen Vertrauen, und zeigen sie uns die von unter den benachbarten Ruinen gesammelte Rüstkammer. „Aserbaidschaner. Sie wurden von den Aserbaidschanern hintergelassen.“ „Und wohin sind sie gegangen?“ „Zurück in Aserbaidschan.“ „Und ihr seid von dort gekommen?“ „Gar nicht. Wir sind aus Schuschi. Wir sind doch keine bezhentsy, Flüchtlinge!“

Sie zeigen uns die geheimen Treppe in die Minarette und an die Spitze der Kuppeln hinauf. Die Bögen des Gebäudes sind von unten gesehen noch intakt, aber von oben kann man sehen, dass zwischen den freiliegenden, ohne Dach verlassenen Kuppeln wachsen junge Bäume, die die Ziegelgewölbe langsam zersplittern werden.


Unsere Begleiter folgen uns, sie wollen uns alles zeigen. „Diese waren persische Häuser.“ „Nicht aserische?“ „Nein, nein. Die Aserbaidschaner lebten dort. Hier lebten die Perser.“ „Und was ist mit ihnen geschehen?“ „Sie sind auch weg.“ „Und dies war das Gefängnis“, zeigen sie auf den verfallenen Keller des Kulturhauses. Wir fragen nicht, wer hat wen dort eingesperrt.

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Als wir auf der Hauptstraße zurückspazieren, nach dem Rat von Mustafa Agha prüren wir über, ob jemand arbeitet. Wir freuen uns zu sehen, dass man in fast jedem Torweg arbeitet, man packt Esel, schneidet Fleisch, näht und Töpfe macht, und ein Fotograf nimmt in seinem Studio auf, wie es war, als in Schuscha noch Armenier und Muslime friedlich nebeneinander lebten.

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„Ach, Khan“, sagte Mustafa Agha. „Deine Vorfahren führten Kriege, aber du bist im Haus der Weisheit gesessen, und du bist ein gebildeter Mann. Also hast du über Kunst gehört. Die Perser sind stolz auf Saʿadi, Hafez und Ferdausi, die Russen auf Puschkin, und im fernen Westen lebte ein Dichter namens Goethe, der ein Gedicht über den Teufel geschrieben hat.“

„Sind alle diese Dichter auch von Karabach?“ fragte ich ihn.

„Nein, mein edler Herr, aber unsere Dichter sind besser, auch wenn sie nicht bereit sind, ihre Worte in das Gefängnis der toten Buchstaben einzuschließen. Sie sind zu stolz, ihre Gedichte abzuschreiben. Sie singen sie.“



Qubanin ag almasi (Weiße Äpfel von Quba), in Bayati Shiraz Mugham-Modus, von Miralan Miralanov gesungen. Aus dem Album Aserbaidschanische Liebeslieder. Karabach, und insbesondere Şuşa waren das Zentrum der traditionellen aserischen Mugham-Musik.

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