Dracula


Die Dämmerung war hereingebrochen, als wir in Bistritz, einer alten, interessanten Stadt, ankamen. Sie liegt zweckentsprechend hart an der Grenze – von hier aus führt der Borgópass in die Bukowina – und hatte demgemäß eine sehr stürmische Vergangenheit, von der sie noch heute Spuren trägt.
Bram Stoker: Dracula. Ein Vampirroman

Heute abschließ ich die übersetzung von Umberto Ecos Geschichte der fabelhaften Länder und Orte, die während der letzten sechs Monate mein Wegbegleiter war in Subotica und Tokaj, Lemberg und Odessa, Czernowitz und Kamenez-Podolsk, Berlin und Mallorca, an der Quelle des Tisa in Subkarpatien und den chassidischen Pilgerstätte in Podolien, in den Holzkirchen von Maramuresch und den bemalten Klöster der Bukowina, beim Klettern von den Radna-Berge zum Nyíres-Pass und beim Abstieg vom Borgó-Pass nach Bistritz/Beszterce/Bistrița. Die Orte, über die er schreibt, knüpfen sich mit seltsamen Synkopen zu den Orten, wo ich ihn übersetzte, die Irrfahrten des Odysseus zum Tscheremosch-Tal, und der verlorene Kontinent Atlantis zu Czernowitz, anbietend solche unerwarteten Lesungen des Buches, dass es tut mir wirklich leid, diese nicht mit den Lesern in der Form eines kontinuierlichen Übersetzers-Fußnote teilen zu können.

Das Buch, das Bompiani im Oktober in mehreren Sprachen veröffentlichen wird (auch nach vielen Jahren von Übersetzung lese ich immer mit einen gewissen Erstaunen die Daten aus der Zukunft im Kolophon eines Verlags-PDFs), ist nicht über legendäre Orte im Allgemeinen, über die schon voluminöse Enzyklopädien geschrieben wurden, aber ausdrücklich über solche imaginären Orte, die die Leser als wirklich bestehende aufgenommen hatten, und dann sogar für Jahrhunderte versuchten, von Atlantis zum Paradies auf Erden, und vom Versteck des Heiligen Grals zum unbekannten südlichen Kontinent, mit einem besonderen Schwerpunkt auf den Mystifizierungen des zwanzigsten Jahrhunderts, von der Thule und Hyperborea des NS-Okkultismus durch die Lehre des ewigen Eises und der hohlen Erde zum gestohlenen Quatsch Dan Browns. Und im letzten Kapitel erzählt Eco, dass bestehende Orte haben auch zum Thema von erfolgreichen Romane, und hiermit zum Gegenstand einer regelrechten Kult geworden. Er bietet eine lange Liste von Beispielen an, von Robinsons Insel durch Arsène Lupins Felsen und das Gefängnis des Grafen von Monte Christo zu Sherlock Holmes Haus in der Baker Street und dasjenige von Nero Wolfe in New York, aber – als wir schon in den Posten über den Brunnen von Eratosthenes und den Schwanz des Löwes geschrieben haben –, er wäre nicht Eco, hatte er nicht einen Jongleurball fallen gelassen:

„Eine reale Person war im 15. Jahrhundert auch der Woiwode Vlad Țepeș, jetzt besser bekannt als Dracula nach dem Namen seines Vaters, der natürlich kein Vampir war, wurde aber durch das wahllose Pfählen seiner Feinde berühmt.“


Wie die bestehende Person mit den bestehenden Orten wie ein Kuckucksei gemischt ist, ist nur der kleinere Problem. Das größere ist, dass das Beispiel völlig falsch ist, da die Person ist berühmt dafür, dass er nicht mit einem tatsächlichen Ort verknüpft werden kann. Eco steckte seine Hand in ein Wespennest. In der Tat, für Vlad Țepeș, Vlad der Pfähler, Fürst der Walachei, genauso wie für Homer, sieben Standorten konkurrieren. Der bekannteste ist die beeindruckende Festung von Törcsvár/Bran, wo der junge Vlad für eine kurze Zeit inhaftiert wurde, und die seit 1920 vom rumänischen Tourismusbüro als Draculas Schloss propagiert ist. Ihre Position wurde nach 1990 von Schäßburg/Segesvár/Sighișoara herausgefordert, in deren Festung Vlad in 1431 geboren wurde – sein Vater hatte damals vor seinen pro-osmanischen Rivalen nach Ungarn geflohen, und in diesem Jahr an den von Kaiser Sigismund gegründeten Orden der Ritter des Draches (auf rumänisch Dracul) aufgenommen –, so dass noch vor einem Jahrzehnt der Bürgermeister von Schäßburg den Bau eines riesigen Dracula-Vergnügungspark rund um die Stadt forderte, bis Prinz Charles von England, der nach 1990 große ehemaligen sächsischen Länder in der Nachbarschaft erwarb und begann zu entwickeln, drohte ihn an, dass er nach solcher Abgeschmacktheit aus der Region zurücktreten seie. Das dritte Orte ist das ehemalige fürstliche Zentrum in Târgoviște, wo eine Gedenktafel und mehrere schreckliche Souvenirs an seine Regierungszeit erinnern. Das vierte ist Istanbul, wo in 1953 der von Stokers Roman inspirierte Film Drakula İstanbul’da, „Dracula in Istanbul“ gedreht wurde, unter Hinweis auf die Jahre, die der junge Vlad als osmanische Geisel hier verbrachte, und wo die Gestalte von Elizabeth Kostovas Besteller The Historian (2005) die Spuren von Dracula forschen. Der fünfte ist der Burg Poienari in den südlichen Karpaten, gebaut durch die Zwangsarbeit der sich gegen ihn mitgeschworenen Bojaren. Der sechste Pécs in Ungarn, wo neuerdings der vom König Matthias ihm geschenkte Palast erschlossen wurde. Und der siebente ist natürlich der Borgó-Pass, wo nach Stokers Roman der Schloss des Grafes stand, und wo heute die Leser während der Überquerung des Passes ein Hotel Draculas Schloss finden – natürlich nicht wo das Schloß im Roman stand, da er außer Augendistanz, über ein paar Sumpf-Brände und ein Wolfsabenteuer zu finden war, aber an der Abzweigung, wo Jonathan Harker, unter häufigen Kreuzen der Passagiere, von der Bistritz-Bukowina-Postkutsche in den für ihn gesendeten Wagen von Graf Dracula umsteigt.

Bald waren wir unter Bäumen, deren dicht verschlungenes Geäst förmlich einen Tunnel über uns bildete, bald stiegen schroffe Felsen zu beiden Seiten kühn in die Höhe. Trotzdem wir geschützt waren, konnten wir den stärker werdenden Nachtwind hören; es pfiff und winselte durch die Felsen und klatschend und krachend schlugen die Zweige der Bäume zusammen. Es wurde immer kälter und kälter und bald fiel auch ein leichter Schnee, der uns und unsere Umgebung in einen weißen Überzug hüllte. Der scharfe Wind trug uns aus immer weiterer Ferne das Heulen der Hunde zu. Dagegen klang das Geheul der Wölfe näher und näher, gleichsam als wenn sie uns von allen Seiten umringten. Ich war sehr erschreckt und die Pferde teilten meine Furcht; der Kutscher aber schien nicht im mindesten beunruhigt. Er wandte den Kopf aufmerksam zur Rechten und zur Linken, aber ich konnte nichts bemerken.

Standorte des Dracula-Romans aus dem Blog von Gashicsavargó (es lohnt sich, auch seinen englishsprachigen Post zu lesen)

Obwohl wenn Eco – oder vielmehr seine Redakteure und Studenten, die einen immer wichtigeren Teil seiner Ideen und Materialen liefern – ein bisschen in der Stoker-Literatur gegraben hätten, würden sie leicht auch einen Kultort Draculas gefunden haben. Zwar sind die Sachsen nach 1990 aus Bistritz verschwunden, dennoch haben die lokalen Ungarn und Rumänen große Anstrengungen zur Erhaltung und Präsentation der Vergangenheit der Stadt, darunter des einzigen authentischen Orts in Bram Stokers Dracula Geschichte gemacht.

Graf Dracula hatte mir geraten, im Hotel Goldene Krone zu übernachten, einem Haus nach altem Stil – zu meiner Freude, da ich so viel als möglich von dem sehen vollte, was das Land bietet. Ich wurde offenbar erwartet, denn als ich eintrat, traf ich eine ältere, gutmütig aussehende Frau in dem gewöhnlichen landesüblichen Kostüm. Weißes Unterkleid mit langer doppelter, hinten und vorne herunterhängender Schürze aus buntem Tuch, die allerdings zu knapp anlag. Als ich näher trat, machte sie einen Knix und sagte „Der Herr Engländer?“ „Ja“, sagte ich, „Jonathan Harker.“ Sie lächelte und gab einem ältlichen Mann in weißen Hemdärmeln, der ihr bis zur Türe gefolgt war, einen Auftrag. Er ging, kam aber gleich darauf mit einem Briefe in der Hand wieder zurück:

Mein Freund! Willkommen in den Karpaten. Ich erwarte Sie mit Ungeduld. Schlafen Sie wohl für heute. Um drei Uhr morgens geht die Postkutsche nach der Bukowina, ein Platz ist für Sie reserviert. Am Borgópass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir bringen. Ich hoffe, dass Sie eine gute Reise von London bis hierher hatten und dass Sie sich Ihres Aufenthalts in meiner herrlichen Heimat freuen mögen. Ihr Freund,

Dracula



Der Platz des ehemaligen Hotels König von Ungarn auf der Karte von Bistritz aus dem späten 18. Jh.

Das ehemalige Hotel König von Ungarn – zwischen den beiden Weltkriegen Hotel Paulini – heute

beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce beszterce


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

I enjoy this blog immensely, so I hate to suggest that you might be wrong - or thatWikipedia is wrong, which is also not unlikely: http://en.wikipedia.org/wiki/Bistri%C8%9Ba#Popular_culture. I came upon this information only a few days ago, when I was reading up on the places you were touching during your recent travels. Keep up the good work!

Studiolum hat gesagt…

Thank you for the comment and for your good words! In fact, Wikipedia is partly right and partly wrong. It is true that there existed no Golden Krone Hotel in Bistritz at the time of Bram Stoker’s (and, consequently, of Jonathan Harker’s) visit. But from his diary and from the literature on his work we know for sure that during his visit to Bistritz he himself stayed in the Hungarian King Hotel, and, it seems, he renamed it both in his memory and in his book for Golden Crown. This hotel no longer works: the building, wearing the plaque I have photographed, does exist, but it is now a dilapidated living house. And it is true that there exists a modern Golden Crown (Coroana de Aur) hotel, named like this for the tourists attracted by the book, but it is a different building, some hundred meters from the old one, and looks completely different: www.booking.com/hotel/ro/coroana-de-aur.de.html .

Anonym hat gesagt…

Thank you for clearing that up!