Wir fahren bergauf auf dem in den Fels gehauten Weg. Wasserfälle laufen auf den senkrechten Wänden ab, sie fließen über den Weg vor uns durch, und auf dem Rand der Klippe stürzen sie unten in den schwindelerregeden Abgrund. Manchmal fahren wir bis zu den Achsen im den Weg überschwemmenden Strom. Der dünne Streifen der Straße verläuft um den Rand des Tales wie eine Niveaulinie, an der Spitze des Tales schlägt er scharf zurück und erhebt sich zum nächsten Pass. Der Stori-Fluss brüllt immer tiefer unter uns, die Gipfel des Großkaukasus sind immer steiler, und die Wolken, wie große graue Raubvögel, sinken immer tiefer über unsere Köpfe.
Du gehst wieder. Vom georgischen Volksalbum Idjassi (2005)
Es ist Ende Juni. Der Schnee auf dem 2900 Meter hohen Abano-Pass schmilzte kürzlich ab, die Schneewände mit ihren fabigen Schichten erheben sich entlang des Weges wie Abschnitte von aderigen Mineralien. Dies ist die Wasserscheide des Kaukasus, von hier aus laufen die Flüsse nach Norden, über das Tal von Tuscheti und durch die dagestanische Grenze. Unter uns, das grüne Tuscheti-Gebirge. Vom Pass kann mann noch die schneebedeckten Kämme von Pirikita, der tschetschenischen Grenzgebirge sehen, die dann allmählich sinken sich, und erst in Tuscheti wieder spektakulär erscheinen.
Tuscheti und das Alazani-Tal an der nördlichen und südlichen Seite des Großkaukasus. Der 70 Kilometer lange unbefestigte Weg, der nur mit dem Allradantrieb oder zu Fuß passierbar ist, führt von Pshaveli durch den Abano-Pass nach Omalo. Tuscheti ist auf der kleinen Einlegkarte von Georgien rot markiert. (Vergrößern!)
Es hat seit Tage geregnet. Kurz vor Tuscheti schlüpfte der Hang in den Fluss, und blockierte den Weg. Eine einsame Planierraupe versucht, die Schlammlawine abzuräumen, der ungleiche Kampf wird anscheinend für mehrere Tage dauern. Wir müssen ein paar hundert Meter oberhalb der noch bewegten Erde wandern, um dann dass in die aus den Dörfern von Tuscheti gesendeten Off-Road-Jeeps einzusteigen. Nur noch ein Paar einsame Klippen, einige Flussbögen unter uns, und hoch oben auf dem Berghang erscheint das erste einsame Dorf. Nach Ushguli,Xinaliq und Masouleh sind wir noch einmals auf einem der Dächer der Welt.
Tuschetien ist die zweithöchste besiedelte Gebirgsregion Georgiens nach der nordwestlichen Swanetien, aber sie ist weitaus abgelegener. Ein einziger Weg führt hierher, derselbe siebzig Kilometer lange ungepflasterte Weg, durch den wir eben angekommen sind. Er ist nur von Anfang Juni bis Ende September befahrbar, weil der Pass im Rest des Jahres mit Schnee bedeckt ist. Zu dieser Zeit wird die Landschaft grün, und die Pflanzen beginnen eine spektakuläre Blüte, um den kurzen Sommer auszunutzen. Und zu dieser Zeit kommen auch die Einwohner Tuschetiens aus ihren Dörfern im Süden, entlang des Alazani-Flusses auf, wohin sie in den letzten Jahrzehnten heruntergezogen waren, um ihre Häuser zu reparieren, um die Pflege der Schafe und Kühe von den wenigen alten Männern, die im Winter die Tiere des ganzen Dorfes betreuen, zu übernehmen, und um den Touristen Unterkunft zu bieten, die auch in dieser archaischen Gegend Georgiens, wenn auch nicht massiv, sondern immer kühner erscheinen.
Liebeslied aus Tuschetien. Vom Album Idjassi (2005)
Die Bewohner Tuschetiens sind meist kakhetische Georgier, die einen alten georgischen Dialekt sprechen, und die nach ihrer eigenen Tradition im 4. Jahrhundert von der Christianisierung Georgiens hier, nach Norden geflohen sind. Der andere Teil der Bevölkerung, die Bats, die eine mit Tschetschenisch und Inguschisch verwandte Sprache spricht, ist im 16. Jahrhundert von der Islamisierung der nördlichen Seite des Kaukasus hier, nach Süden geflüchtet. Heute sind beide Völker nominell orthodox-christlich, aber die erste Kirche wurde erst vor kurzem im Tal eröffnet, und die vorchristlichen animistischen religiösen Traditionen sind noch sehr lebendig. Die Grenzen der bewohnten Gebiete werden mit heiligen Ramhornsäulen bezeichnet, und um jedem Dorf gibt es umzäunte Wiesen, wo sich die Männer für Fruchtbarkeitsritualen sammeln. Im Sommer ist es Aufgabe der kleinen Kinder, die in der Nähe dieser Wiesen spielen, die Touristinnen zu warnen, nicht in die heilige Gegend einzutreten, weil die Anwesenheit von Frauen ihre Macht brechen würde.
Die zentrale Siedlung des Tales ist Omalo, ein lockeres Ensemble von jahrhundertealten Bauernhöfen um der Fünfturmschloss von Keselo. Die Festung, die sich sehr eindrucksvoll unter dem weißen Grat der dagestanischen Grenzgebirge erhebt, widerstand sogar dem Angriff der mongolischen Armee.
Das andere Zentrum Tuschetiens, das mittelalterliche Dorf von Dartlo, ist fünfzehn Kilometer, ungefähr eine Stunde mit Allradantrieb entfernt, zum Westen von Omalo im Tal des Pirikita Alazani Flusses. Über dem Dorf erhebt sich der 4300 Meter hohe Dartlo-Berg, auf dessen Gipfel sich die tsetschenische, dagestanische und georgische Grenze zusammentreffen, und durch dessen Pässe die dagestanischen Räuber seit Jahrhunderten in Georgien einfielen. Gegen sie wurden die Festung von Dartlo und die Wachtürme der Dorfhäuser errichtet, die eher das Stil des Feindes, die nach oben spitz zulaufenden, konisch bedeckten tschetschenischen und inguschen Wachtürme auf der nördlichen Seite des Kaukasus, als die gerade mauerten georgische Türme Swanetiens nachahmen. Neben dem Dorf, jenseits des Baches, so dass sich die Toten nicht mit den Lebenden vermischen, liegt der Friedhof, wo die Gräber nach der alten kaukasischen Brauch nur mit einfachen Natursteinen, ohne Grabschrift bezeichnet werden. Die Häuser wurden wunderschön restauriert, sogar eine feine Kneipe im alten tuschetischen Stil wurde gebaut. Die Tuschetier, obwohl sie in die Täler herunterzogen waren, und nur den Sommer hier verbringen, anscheinlich halten ihr altes Dorf für ihre eigentliche Heimat.
Im nächsten Sommer führen wir wieder eine Gruppe nach Tuschetien und die angrenzenden georgischen Regionen. Wenn Sie mit uns kommen möchten, schreiben Sie uns an wang@studiolum.com.
Poststempel sind oft mit überraschendenGeschichten verbunden. Und eine überraschendere als die folgende werden Sie heute schon nicht lesen. Das folgende Objekt erschien heute auf einer Auktions-Website:
„Poststempel beschriftet Poštovní úřad Ilnice in Tschechisch und Serbisch, aus der albanischen Siedlung von Ilnice / ca 1910 Albania, Ilnice, Czech postal station seal maker 36 mm“
Wirklich musste es ein historischer Moment gewesen sein, der Höhepunkt des Multikulturalismus „der glücklichen Zeiten des Friedens“, als das erste Postamt im albanischen Bergsdorf Ilnicë, unter den malerischen Bergen des Balkans, nicht weit von der heutigen mazedonischen Grenze geöffnet wurde. Und was für ein Postamt! Mit einem zweisprachigen, tschechischen und serbischen Stempel, und mit dem zweischwänziger Löwe anstelle dem zweiköpfigen österreichischen Kaisers- oder albanischen Königsadler. Und all dies im Jahr 1910, vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, und acht Jahre vor den großen mitteleuropäischen Grenzverschiebungen. Was für eine Harmonie der mitteleuropäischen Nationen! Ach, wenn es nur so geblieben hätte!
Aber es ist nicht so geblieben. Und vielleicht war es nie so. Was ist ja die Quelle dieser Lokalisierung? Die Tatsache, dass wenn man „Ilnice“ sucht, Google verweist auf das albanische Dorf „Ilnicë“. Es gibt kein anderes Ergebnis. Wenn man jedoch mit einem Minimum an gesundem Menschenverstand darüber denkt, wo und wann amtliche Inschriften auf Tschechisch und Kyrillisch gleichzeitig unter der Schirmherrschaft des zweischwänzigen Löwens gebraucht wurden, kommt man darauf, dass es nur in der schräg visavis gegenüberliegenden Ecke der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, im von Ungarn 1920 an die Tschechoslowakei abgetrennten Rusinsko geschehen sein konnte. Und dann ist es schon leicht zu finden, nicht weit von Nagyszőlős/Vinogradov, entlang der Ilnicka-Strom, das Dorf von Ilonca (in Tschechisch Ilnice, in Russinisch Ильниця, in Rumänisch Ilniţa, auf dem modernen ukrainischen offiziellen Namen Ільниця), dessen keine historische Namen, wie die auf dem Stempel, werden von Google bekannt.
In der Linguistik ist ein „faux-ami“, falscher Freund ein Wort, das in zwei Sprachen ähnlich klingt, aber eine verschiedene Bedeutung in jedem hat. So wie die tschechische Ilnice und die albanische Ilnicë. Die obige Auktionsbeschreibung weist darauf hin, dass ohne Sorgfalt und Kritik an der Quellen kann auch Google dein falscher Freund sein.
Wir konnten keine zeitgenössischen Postkarte von Ilonca finden. Dies ist aus dem benachbartem Ilosva, das näher an der Hauptstraße und dem Eisenbahn lag, und so konnte es mit mehreren Postkartenkunden rechnen. Schließlich liegt es noch näher an Ilonca als das albanische Ilnicë.
Verlassend die Stadt von Alaverdi, die seit undenklichen Zeiten die gesamte Region mit Kupfer aus seinen unerschöpflichen Gruben versah, und die Brücke aus dem 12. Jahrhundert überquerend, auf dessen Balustraden vier steinernen Katzen schlummern in der Sonne, der steile Bergpfad wird schließlich Kloster Sanahin leiten. Über das Tal hinaus ist das Kloster von Haghpat sichtbar, und die beiden stehen auf gegenüberliegenden Seiten eines Nebentals des Debet-Flusses, der durch Armeniens nördlicher Provinz von Lori fließt. Laut Wikipedia bedeutet der Name „sanahin“ soviel wie „dies ist älter als das“, mit scheinbarem Hinweis auf seinen nahe gelegenen Rivalen.
Es ist fast ein Jahr her, dass ich erst dort war, ein paar Stunden nach einem Spätwinter-Schneefall. Die Luft war frisch und kühl, und in der Nachmittagssonne tropfte das Wasser reichlich von den Ästen, die durch ihren schnell zerfallenden Gewicht noch stark verbeugten. Wie ich es oft beim Besuch ungewohnter Orten tue, habe ich eine Tonaufnahme dieser Atmosphäre gemacht.
Ich freue mich zu sagen, dass die Aufnahme auf die Liste der „Best Winter Music von 2016“ der Website A Closer Listen aufgenommen wurde
„Die Filecasts von nula gehören zu den geheimnisvollsten online. Regelmäßig veröffentlicht er Fieldaufnahmen, die Zeit und Ort mit besonderem Kraft wachrufen. Diese kommt aus dem armenischen Kloster von Sanahin, wo „die späte Winterschnee ist nass und schwer, und sie trieft ergiebig in der Nachmittagssonne“. Die Aufnahme erinnert daran, dass der Wechsel der Jahreszeiten auch eine spirituelle Veränderung wiederspiegeln kann, wo die schwere Belastung leichter wird, die Herzen sind geschmolzen, und die Augen wenden sich wieder der Sonne. Auch von Interesse ist nulas neueste Komposition, cold fire.“
Musik des Winters in Sanahin. Aufnahme von Lloyd Dunn, Februar 2016 (11'10")
Das Emanzipationsgesetz von 1867 – das heute vor hundertneunvierzig Jahren einstimmig vom ungarischen Parlament genehmigt wurde – eröffnete den Weg zum sozialen Aufstieg der ungarischen Juden. Gleichzeitig brachte der österreich-ungarische Kompromiss einen nie gesehenen wirtschaftlichen Aufschwung für das ganze Land mit sich. Die jüdische Bourgeoisie hatte allen Grund zu glauben, das Kanaan ist bereits hier (wie es in einem anderen Zusammenhang vom großen zeitgenössischen Dichter Sándor Petőfi gesagt wurde).
Dieses Gefühl, diese stolze und zuversichtliche Stimmung der sozialen und wirtschaftlichen Emanzipation manifestierte sich in den großen Synagogen, die am Ende des Jahrhunderts gebaut wurden. Wie Tamás Halbrohr, emeritierter Ober der Synagoge von Szabadka/Subotica zitiert die Worte ihrer Erbauer, „wir bauen nicht Synagogen, sondern jüdische Tempel“, mit den christlichen Kirchen gleichrangige sakrale Zentren, deren repräsentative Ausgestaltung und architektonische Lösungen auch an den Tempel von Jerusalem und das mit ihm verbundene goldene Zeitalter erinnern. Solche waren die Hauptsynagogen der großen Städte, Budapest, Pozsony/Preßburg/Bratislava, Nagyvárad/Großwardein/Oradea oder Szeged, deren historistischer und oft orientalistischer Stil an die Jahrtausende der jüdische Geschichte anspielt. Oder die beeindruckenden Synagogen der großen ungarischen Tiefebene, Hódmezővásárhely, und vor allem Szabadka/Subotica, die die Motive des von den Budapester Architekten entwickelten „ungarischen Jugendstils“ verwenden für den Ausdruck ihrer Identifikation mit der ungarischen Nation.
Im vergangenen Jahr besuchten wir diese prächtigen jüdischen Tempel mit dem Filmteam von Eti Peleg. An jedem Ort sprachen wir mit Kunsthistorikern, Architekten, Lokalhistorikern, den Mitgliedern der lokalen Gemeinschaften, um die Absichten der einmaligen Baumeister und Auftraggeber und den sich in den Gebäuden verkörperten Geist der Zeit wieder erwecken. Den Geist einer Zeit, die, wenn wir sie nicht mit unserer nachträglicher Weisheit, durch das Prisma der eines halbes Jahrhundert späten Tragödie sehen, kann wirklich als das goldene Zeitalter de ungarischen Judentums betrachtet werden.
Der Film ist abgeschlossen, jetzt suchen wir Distributoren. In der Zwischenzeit veröffentlichen wir die folgende kurze Zusammenfassung. Und noch einmal möchten wir Dank sagen an alle, die uns bei der Vorbereitung geholfen haben.
Bei der Veröffentlichung der „Rassengesetze“ von 1938, 9170 jüdische Ausländer aufhielten sich mit Genehmigung in Italien. Viele von ihnen lebten dort jahrzehntelang, andere flohen dorthin nach den Nürnberger Gesetzen von 1935, wegen der völligen Entrechtung – einschließlich der Ausbürgerung –, und der Judenverfolgung durch das NS-Regime. 1938 begann für sie die Odyssee auch in Italien. Ihre Route leitete meist über Genua. Viele von ihnen waren Studenten, von den besten Schulen Osteuropas, die ihre Studien in Italien beginnen und hoffentlich auch beenden wollten. Ihre persönliche Akten können noch an den Universitäten von Genua und anderer italienischen Städten gefunden werden, einschließlich ihrer Registerdaten sowie der Informationen über ihr Studien, die bestandenen Prüfungen, Noten, Thesen, die Adressen in ihrer Heimat und in Italien. Am oberen Rand von vielen Akten zeigt ein Stempel die Gehörigkeit des Studenten zur jüdischen Rasse. Die Wanderung von Universität zu Universität in der Hofnung, ihr Studium abzuschließen, machte „wandernde jüdische Studenten “ von allen.
Ihre Wanderung endete 1940, als sie alle in die Konzentrationslagern für ausländische Juden aus osteuropäischen Ländern interniert wurden. Eines davon wurde neben Ferramonti di Tarsia im süditalienischen Kalabrien aufgestellt. Das Lager wurde in einer sumpfigen Region errichtet, als eine Erweiterung der Kasernen für die Arbeiter der Firma Parrini, die die Entwässerung durchführten. Obwohl das Gebiet nicht den Anforderungen des Innenministeriums entsprach, gelang es Parrini, über seine Verbindungen eine Konzession an die Erweiterung des Lagers zu erhalte, und die ersten jüdischen Internierten als seine Arbeiter zu registrieren. Darüber hinaus gelang es ihm, die entsprechende Nahrungsversorgung für die Internierten zu erhalten.
Das Lager von Ferramonti
Das Innere einer Baracke in Ferramonti
Ferramonti war eher ein Dorf als ein Konzentrationslager, und aus mehr als einem Grund. Einige der Lagerkommandanten waren extrem humane Personen, sowie der erste von ihnen, Paolo Salvatore. Die Gefangenen, die meist hochqualifizierte Fachleute waren, verhielten sich immer in intelligenter und kooperativer Weise. Auch das großzügige und empfangene Verhalten der örtlichen Bevölkerung trug wesentlich dazu bei, ebenso wie das Dasein eines Mönchs aus dem Vatikan, der in erster Linie nicht spirituelle, sondern praktische Aufgaben leistete.
Pater Callisto Lopinot
Wegen der milden Behandlung des Lagerkommandanten Paolo Salvatore ging das Leben auf dem erträglichsten Weg im Lager. Er nie verweigerte eine Ausreisegenehmigung, wenn es notwendig war. Die Leute konnten Fotos machen und Radio hören. Man hat eine Grundschule errichtet, und Salvatore selbst nahm die Kinder regelmäßig mit dem Auto ins Dorf für ein Eis, oder fuhr sie auf seinem Motorrad um das Lager herum.
Paolo Salvatore
Das Lager hatte eine eigene Bibliothek, wo eine kleine Lokalzeitung gedruckt wurde. Sie hatten ihre eigene Bäckerei, wo auch rituelle Matze gebacken wurde, sowie eine Schneiderei, wo das Kleid der Gefangenen nach Größe zugeschnitten wurde.
Das Lager hatte sein eigenes Parlament, wohin jede Baracke einen Vertreter delegierte. Die Verträter wählten dann den „obersten Führer“, der mit den Kommandanten über die Angelegenheiten des Lagers verhandelte.
Rabbiner Pacifici im „Parlament“ von Ferramonti
Die Familien wurden nicht getrennt, und es hielte auch Hochzeiten. Einundzwanzig Kinder wurden in Ferramonti geboren.
Jüdische Hochzeit
Kinder in Ferramonti
Da sie alle Juden waren, gab es in Ferramonti so viele wie drei Synagogen. Eine Orthodoxe, eine Reformsynagoge, und eine dritte für die zionistische Betar-Organisation.
Das Innere einer der drei Synagogen
Kultur und Sport halfen, die verschiedene Gruppen zu verbinden. Es wurden Konzerte, Theateraufführungen, Lesungen, Poesiewettbewerbe veranstaltet. Viele der Gefangenen waren Künstler, für die eine besondere Baracke als Atelier aufbehalten war. Hier arbeitete zum Beispiel Michel Fingenstein, der renommierter Maler und Exlibris-Künstler. Europa-Fußballmeisterschaften fanden ebenfalls statt. Vom jugoslawisch-polnischen Fußballspiel haben wir die volle schriftliche Chronik.
Am Klavier Lav Mirski; die beiden Sänger sind Gildin Gorin und Elly Silberstein
Die Studio-Baracke. Der erste von links ist Michel Fingenstein
Fußballspiel
Trotzdem waren Hunger und Insekten auch in Ferramonti daheim, zusammen mit dem Gefühl, dass etwas Schreckliches da draußen in der Welt passiert.
Die Internierten waren Juden aus Rom, Deutschland, Österreich und Polen, Exilanten aus Osteuropa, Juden aus Libyen, Laibach und Serbien, sowie die Passagiere des Pentcho. Der letztere Flussdampfer segelte aus dem Hafen von Bratislava in der Hoffnung, Palästina zu erreichen, aber er scheiterte neben der Insel Rhodos, die damals zu Italien gehörte.
Pentcho
Zu den Bewohnern des Lagers gehörten auch jugoslawische, griechische und chinesische Partisanen.
1943, als die deutsche Armee in Italien begann sich zurückzuziehen, waren die meisten der Internierten, vor allem die Jüngsten von den benachbarten Bauern in den Wäldern und in ihren Häusern verborgen. Der Mönch schaffte es, die Deutschen davon zu überzeugen, dass eine Cholera-Epidemie im Lager wütete, und damit ihr Eindringen zu verhindern. Das Lager wurde im September 1943 von den Briten befreit, die zugleich die Auswanderung nach Palästine verboten. Viele Menschen blieben dort bis zum Ende des Krieges, bevor sie entschieden, wo ihr neues Leben zu beginnen.
Die jüdische Brigade von Ferramonti
Viele von ihnen wurden berühmt als Künstler, Schriftsteller, Gelehrte oder Athleten. Der Berliner Arzt und Psychiater Ernst Bernhard wurde ein hervorragender Student von Carl Gustav Jung in Zürich. Richard Dattner aus Polen emigrierte in die USA, wo eir ein renommierter Architekt wurde. Oscar Klein aus Österreich wurde weltberühmter Jazz-Trompeter. Der in Budapest geborene Imi Lichtenfeld wurde einer der bedeutendsten Kampfkünstler des Jahrhunderts, ein Gründer der Krav Maga Selbstverteidigungstechnik und der israelischen Armee. Der jugoslawische Arzt David Melt wurde wiederholt für den Nobelpreis für die Entdeckung des Impfstoffs gegen die Dysenterie nominiert. Alfred Weisner war der Entdecker des Algida Eis-Prozesses, und Begründer des gleichnamigen Unternehmens.
Wie habe ich diese Geschichte gefunden? Durch den Dokumentarfilm Ferramonti, il campo ʻsospeso’ (Ferramonti, das „aufgehobene“ Lager) von Christian Calabretta, der von Rai Storia an einem Sonntagnachmittag aufgeführt wurde. Ich wollte sie tiefer kennenlernen, deshalb schrieb ich an Mario Rende, der Verfasser des bei Mursia veröffentlichten Essays Ferramonti di Tarsia. Durch ihn lernte ich besser die Gruppe der „Genua-Juden“ kennen. Ich verbrachte zwei Tage im Archiv der Universität Genua, wo ich die persönlichen Akten der Studenten, insbesondere der Medizinstudenten forschte.
Wir kennen sogar die Gesichter von vielen, dank der von der Universität von Bologna und der Munizipalität von Ferramonti am Internet zur Verfügung gestellten Dokumentation. Ich auch veröffentliche einige von ihnen, aber ich bin sicher, dass viele weitere Bilder in den Familienalben gefunden werden können, die in Europa und auf der ganzen Welt verstreut sind. Die Bildunterschriften beinhalten die Namen der Personen, die Namen ihres Vaters und Mutter, Geburtsort und -datum.
Auf Wunsch von Yolanda Bentham, der Tochter des 1913 in Lemberg geborenen und in Genua studierten David Ropschitz gelang es mir, mit mehreren Monaten Forschungsarbeit die Identität eines Kollegen und später Mitgefangenen und lieben Freundes ihres Vaters bestätigen.
David Ropschitz, Isaac Klein, Isacco Friedmann
Es war nicht einfach, denn die Geschichte von Isacco ist sehr verschieden von der der anderen Studenten. Er wurde 1914 in Brody geboren. 1921 kam er in Italien, wo sein Vater Leone, der im Ersten Weltkrieg gefangengenommen worden war, seine Frau und seinen Sohn nach ihm kommen ließ. In der genuesischen Festung Forte Begato, wo er seine Gefangenschaft verbrachte, fand er eine freundliche Umgebung, wo er seine Arbeit fortsetzen konnte. Brody war ein der bedeutendsten jüdischen Zentren der österreichisch-ungarischen Monarchie, die oft als „das österreichische Jerusalem“ genannt wurde, sowie ein Schlüsselpunkt des russisch-österreichischen Handels. Vor dem Krieg waren die Schneider mit 139 Werkstätten und kleinen Fabriken, die alle in jüdischen Händen waren, eine der bedeutendsten Industriezweige in der Stadt. Die Schneidergilde gehörte zu den einflussreichsten Korporationen, und besaß einen eigenen Rabbiner, der in der ganzen jüdischen Gemeinde hoch angesehen wurde.
Leones Entscheidung rettete das Leben seiner Frau Sara und des kleinen Isacco. Während der Nazi-Besetzung wurden alle jüdischen Einwohner von Brody, darunter die 16 Angehörigen von Isacco, getötet, die Mehrheit auf der Stelle, und der Rest in den Konzentrationslagern.
Der Eingang des Ghetto von Brody, 1942-1943
Juden von Brody warten auf die Deportation
Sara unternahm die große Reise durch ganz Europa. Sie war gezwungen, für eine Weile in Prag zu bleiben, weil der kleine Isacco Typhus bekam. Als sich die Familie wieder vereinigte, dämmerte ein neuer Boom für die Friedmanns.
Von links nach rechts: Isacco (Iso), seine Mutter Sara, seine kleinen Brüder Giuseppe und Sigismondo (Gigi), die bereits in Italien geboren waren; und dahinter der Vater Leone
Isacco studierte in der Liceo Cassini. Am 11. July 1939 absolvierte er die Medizinischen Fakultät, und lebte damit ein ganz anderes Leben als seine jüdischen Mitschüler, die wegen der Rassengesetze ihre Familien und ihre Heimat verlassen mussten. Aber sein sorgloses Leben endete 1940 mit der Internierung in Ferramonti.
Isacco Friedmann (links) mit einer Gruppe von in Ferramonti internierten Ärzten
Isacco kam in Ferramonti mit der ersten Gruppe an, die das Lager für die späteren Ankünfte bewohnbar machte. Er gewann das Vertrauen des Lagerkommandanten Salvatore, der ihn in das nahe gelegene Lungro versetzte, praktisch unter freien Bedingungen. Als er aber seine ärztlichen Dienste kostenlos und mit Erfolg den Einheimischen anbot, hat der örtliche Arzt ihn angezeigt, deshalb musste er ins Lager zurückkehren. Dort blieb er bis zum 30. Juli 1942. Danach wurde er nach Santo Stefano D’Aveto in der Nähe von Genua abkommandiert, wo er bis 12. November 1943 blieb. Um eine Verhaftung zu vermeiden, zog er dann sich in die Berge zurück, wo er, wie sagte, die zwei schlimmsten Jahre seines Lebens verbrachte. Nach dem Krieg hatte er eine erfolgreiche medizinische Karriere, wurde verheiratet und hatten einen Sohn, und ist er noch, im Alter von 102, ein brillanter, gebildeter und charmanter Gentleman, wie ich es erfahren habe, als wir uns persönlich trafen. Im August dieses Jahres teilten sie mit Yolanda, die aus England kam, ihre Fotos, unglaubliche Geschichten und nicht immer angenehmen Erinnerungen mit, die ein außergewöhnliches Zeugnis darüber ablegen, was in Ferramonti passiert worden war.
Inge und Isacco Friedmann (links) mit Yolanda Bentham
Auf Wunsch übersende ich gerne Kopien der Personalakten der genuesischen Studenten. Hiermit möchte ich Roberta Rabboni, Leiterin der Sekretariats der medizinischen und pharmazeutischen Fakultät Dank sagen, ohne deren Hilfsbereitschaft ich keinen Zugang zu diesem Material gehabt hätte. Und natürlich freue ich auf alle weiteren Erinnerungen oder Fotos, die ich mit den Forschern des Museums in Ferramonti teilen werde. Jeder kann zur Rekonstruktion dieser Geschichte beitragen, wer Zeuge all dieser Gewalt und Leidens war, aber auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bewahrte. Und wer sich noch daran erinnert, dass Ferramonti im Grunde eine Geschichte der Rettung war.