Ein Dreigroschenprogramm

Die sterblichen Menschen lässt du zu Stau…
Und sprichst: Kehrt zum Staub zurück, ihr Menschenkin…

Ein Programmvorschlag für einen freien halben Tag zwischen den für die nahe Zukunft geplanten grandiosen Mittel- und Osteuropäischen Reisen. Oder auch nur für drei freien Stunden. (Eine Synopsis)

Zur Szene der nächsten Reise fahren wir aus dem Herzen von Budapest, dem Blaha Lujza Platz ab. Nach etwa fünf Straßenbahnhaltestellen erreichen wir den Zielort. Sobald wir aussteigen, können wir zwischen drei Richtungen wählen.

Die gepflasterte Straße nach rechts führt zu den Plattformen des inzwischen aufgelösten Józsefvároser Bahnhofs.

Geradeaus ist die Straße in der nichts verloren. Dies ist das Ende unserer bekannten Welt.

Nach links, eine noch weniger bekannte Welt hinter dem vom größten Meister des ungarischen Jugendstils, Béla Lajta errichteten Tor. Kein Eingang, kein Ausgang.


Im fast leblosen Vordergrund, plötzlich erscheint ein intensiv lauschender Hund.


Wenn einer der Steintafeln mit einem lauten Krach zu Boden fällt, der Hund schritt vor, aber immer lauscht er intensiv. Jetzt auf uns.

Zuerst schauen wir um in dem geschlossenen Hof vor dem Baurest, der sein Kuppel schon vor einigen Jahrzehnten verloren hat, und wurde einst für rituellen Beerdigungszeremonien verwendet.

Wenn der Portier den Hund anliegt, und schiebt die Planke an der Ecke des Gebäudes, ähnlich dem Eingang eines Hühnerhof, ab, können wir in den Friedhof ein(aus)treten.

Um uns herum, die Gräber und Mausoleen der wichtigsten Persönlichkeiten der Post-Emanzipation (1867–) Zeit, der jüdischen Prominenten, die um die Wende des Jahrhunderts starben. Nur ein paar zufällige Grabsteine, beginnend vom Eingang:

• Vilmos Vásonyi, der sein Justizministerseid zur Tora nahm;
• Manfred Weisz, Gründer des Eisenwerks von Csepel, und seine Familie;
• Die Familie Bródy, feine Literaten;
• Lipót Aschner, Gründer des renommierten Glühbirnenfabrik Tungsram;
• Der Maler Adolf Fényes;
• Der Talmudgelehrter Vilmos Bächer;
• Das Mausoleum der Hatvany-Deutsch Familie, das durch eine spezielle breite Straße von draußen angefahren werden kann;
• Der doppelte Grabstein der Zwack-Familie, Erfinder und Hersteller des Likörs Unicum (1782);
• Die Buday Goldberger Familie, Textilindustriellen von Óbuda;
• Mózes Bloch, erster Direktor der rabbinischen Theologie;
• Stadtpolitiker Mór Wahrmann;
• Rabbi Samuel Lőw Brill;
• Bernát Friedmann, Verteidiger im Ritualmordprozeß von Tiszaeszlár;
• József Kiss, Dichter, Autor, religiöse Songschreiber, Publizist;
Dávid Kaufmann, Hebräischer Gelehrter, Religionsphilosoph;

Von hier folgt man den kaum sichtbaren Pfad vor den Grabsteine und Mausoleen entlang der Wand, oder die beiden wichtigsten Straßen des Friehofs, die ein Kreuz zwischen den mit einem undurchdringlichen Busch bewachsten Grabzeilen.

Ausweichend, hoppelnd, springend auf den wackelnden Steine, versuchen wir, zum Eingang entlang den bröckelnden und geplünderten Gräber zurückzugehen.

Wir kommen am Ende unserer Reise. Sobald wir durch das Tor durchkommen, und unsere Gemütsstärke aufrichten, wir biegen nach rects ab. Bald kommen wir wieder zur um das Leben riechenden Realität des Telekiplatzes und Lujza und Dobozi Straßen der Józsefváros zurück.

Unsere Reise ist zu Ende, wir wünschen Ihnen viel weiteren Spaß.

(Teilnahmegebühr: 2 Fahrkarten; über 65 Jahre, gratis)

Odessa


Odessa 1905, with the sites of Río Wang’s posts. Full size

On the Deribasovskaya, at the corner of Rishelievskaya…
The spirit of Odessa
Odessa Tales
The Greek Odessa
The flea market in Odessa
The Moldavanka
Faces from the City Park
Stairways of Odessa
The Fanconi Café’s teaspoon found
Odessa 1931. Color photos by Branson DeCou
Courtyards in the Polish Street
New Year in Odessa
Odessa, the city of marvels
Odessa, ghost city
Odessa, 2. Mai 2014
Travel reports:
Odessa, minute by minute, April 2013
East Unlimited, April 2013
Together in Odessa, October 2012

“Apart from decks, it smelt of acacias, dry seaweed, the camomile in the cracks of the sea wall, and of tar and rust. Occasionally, all these smells were washed away by a special after-storm smell from the open sea. It was quite unlike, and could not be mistaken for anything else. It was as though a girl’s arm, cool from bathing, were brushing my cheek.”
Konstantin Paustovsky, 1920


Hände


Familienalbum:
Alba, 1867
Hong Kong, 1897
Marseille, 1900
Paris, 1904
Valenciennes, 1918
Buenos Aires, 1930
—   Bist du das, auf diesem Foto?
—   Hm, ich weiß nicht. Ich bin nicht sicher. Wo hast du es gefunden?
—   In der großen Schachtel, zusammen mit den anderen.
—   Ich kann es sein… oder vielleicht seine Schwester…
—   Die Schwester von Georges?
—   Ich bin nicht sicher, vielleicht bin es ich. Das Foto ist unscharf, sowieso.
—   Wenn es bist du, du hast dich bewegt. Ich mag das weiße Bettuch und die Bretterwand. Ich stelle mich vor, als deine Eltern in dieser Messe im Norden, in Valenciennes herumlaufen. Sie gehen zufällig der Bude des Fotografs vorbei, du hast gerade erst begonnen zu laufen, und sie, stolz auf dich, möchten ein Foto machen lassen.
—   Meinst du?
—   Allerdings wissen sie nicht, wie es zu tun. Die Erwachsene sitzen auf dem Stuhl vor dem Bettuch, der Fotograf sagt ihnen nicht zu bewegen, und er fixiert ihr Porträt auf einem weißen Hintergrund.
—   Mit den Falten des Bettuchs… wirklich das Foto des armen Mannes!
—   Ja, natürlich. Dein Vater ist in der Nähe des Fotografs, wir sehen ihn nicht, sie diskutieren, die Männer, unter sich – oh, wie sollen wir es tun… das Kind sollte nicht anfangen, zu weinen… sie sollte sich nicht bewegen… Es ist deine Mutter, die das Foto wollte, denke ich, und jetzt hat sie Angst, das du abfallen würdest, so hält sie dich fest.
—   Ich habe gerade angefangen zu laufen, sagtest du.
—   Wahrscheinlich wollte sie im Moment der Aufnahme deine Hand lassen und zurücktreten, aber du standest noch nicht sicher auf den Füßen. So konnte sie es wahrscheinlich nicht besser machen… Vielleicht gab es auch eine zweite Aufnahme, eine schärfere, die der Fotograf schnitt um, und die jetzt verloren ist. Siehst du, auf diese könnte man die Hand, die dich hält, deutlich sehen:


—   Hm, nicht wirklich. Ich erinnere mich nicht. Und überhaupt, vielleicht bin ich nicht dies. Wenn ich dies bin, denn frage ich mich, warum meine Mutter nicht auf dem Bild ist, Seite an Seite mit mir. Ein Foto, wo ich auf dem Schoß meiner Mutter sitzen würde, weißt du? Zwar gibt es ein Foto aus der Gefangenschaft…
—   Sie wollten wahrscheinlich ein Porträt von dir, nur dir.
—   Nur mir. Falls sie mich verlieren.
—   Sie hatten ein anderes Kind verloren, nicht wahr?
—   Hm, hm. Oder vielleicht ist es nicht meine Mutter… aber wer? Ein Nachbar? Die Amme? Schau mal: die Amme nahm mich mit zu der Messe, sie hat mich einen kleinen Eimer gekauft, wir kommen zur Bude des Fotografs an und… Gibt es irgendein Bild von mir mit meiner Mutter irgendwo?
—   Ja und neint. Erinnerst du dich an dieses Dokument?


—   Ah, der Ausweis — ja, natürlich. Wir gingen, meine Mutter und ich, auf die Kommandatur, um es ausfertigen zu lassen, einen Tag nach meiner zwölften Geburtstag, im August 1918. Mein Geburtstagsausweis…


—   Und das, das ist kein Passfoto.
—   Nun, es war Krieg! Zunächst wurde die Stadt besetzt. Dann, ab Mai 1918, wurde Valenciennes bombardiert: ich habe die Gymnasiumaufnahmeprüfung in einem Keller übergeben, die Flugzeuge flogen über der Stadt Tag und Nacht, und Bomben fallen überall. Dann, in September sahen wir die Ankunft der Flüchtlingen aus Douai und Cambrai. Und als die Deutschen uns in Oktober evakuierten, mussten wir diese Karte immer mit uns tragen.
—   Evakuierten?
—   Die Front näherte, wir waren auf dem Weg geworfen, meine Mutter und ich. Wir gangen nach Mons, Liège. In der Tat, kümmerte sich niemand in dieser Zeit, um sich fotografieren zu lassen.
—   Und doch brauchte man ein Foto für die Karte.
—   Wir bastelten ein, denke ich.
—   Sieh sorgfältig: versteckt unter dem Stempel, dein linker Arm erstreckt sich aus dem Bild.


—   Nun, ja?
—   In der Schachtel gab es auch dieses Bild deiner Mutter.
—   Bilder meiner Mutter in dieser Schachtel? Zusammen mit meinen Fotos?
—   Ja, ein oder zwei. Dieses, in einem Paket von blauen Papier – deine sind in einem weißen Paket eines Studios aus Boulevard Montparnasse. Schau mal.


—   Ich sehe. Eine Hand auf ihren Schulter.
—   Deine Hand auf ihre Schulter. Und derselbe blaue Stempel der Kommandatur. Wurden ihre Papiere vielleicht am selben Tag gemacht?
—   Oh nein, sie hatte seit langem seinen Ausweis. Sie musste das Foto schon lange vorher geschnitten. So meine Mutter ging in Valenciennes mit meiner Hand in ihren Ausweis herum… Stell dir vor, dass ich in jenem Moment sterbe… unter den Bomben, die auf die Stadt fielen. Meine Mutter hätte mit einer kleinen schwarzen Kralle auf der Schulter geblieben. Ich hätte für die Ewigkeit ihr Gefangener geblieben.
—  Sie hätte für die Ewigkeit dein Gefangener geblieben. Bist du noch immer wütend auf sie? Nach einer so langen Zeit, jetzt, als ihr beide tot seid? Schau mal, wir können das Bild problemlos rekonstruieren:


—   Ja, ich sehe, ein Studiofoto. Wir beide posierten vor einen bemalten Leinwand, ich lag meine Hand auf ihrer Schulter, als der Fotograf sag mir, wir sahen ins Objektiv, keiner von uns lächelte – es war Krieg –, und dann, dann schnitt sie unser Foto in zwei, für die verdammte Papiere. Nur stell dich vor, wir posierten für meinen Vater, um ein Foto zu meinen Vater zu schicken.
—   Dein Vater?
—   Mein Vater war Gefangener irgendwo im Osten. Und sie schnitt das Foto in zwei, anstatt es zu schicken.
—   Vielleicht ist es eine andere Kopie? Vielleicht gab es ein erstes Foto, das zu deinem Vater geschickt wurde, und ein anderes, das sie für die Deutscher in zwei geschnitten hat?
—   Hm, wirklich, ich erinnere mich an nichts. Ich bin so weit weg.