Ein schönes Silvesterfest


und ein glückliches neues Jahr! (Khuzhir, Baikalsee, Olkhon Insel, 1972)




Tedeum




Andere Stadt



Konstantinos Kavafis: Η Πόλις (Die Stadt). Musik von K. G. Eklektos

Η Πόλις

Είπες· «Θα πάγω σ' άλλη γή, θα πάγω σ' άλλη θάλασσα,
Μια πόλις άλλη θα βρεθεί καλλίτερη από αυτή.
Κάθε προσπάθεια μου μια καταδίκη είναι γραφτή·
κ' είν' η καρδιά μου – σαν νεκρός – θαμένη.
Ο νους μου ως πότε μες στον μαρασμό αυτόν θα μένει.
Οπου το μάτι μου γυρίσω, όπου κι αν δω
ερείπια μαύρα της ζωής μου βλέπω εδώ,
που τόσα χρόνια πέρασα και ρήμαξα και χάλασα».

Καινούριους τόπους δεν θα βρεις, δεν θάβρεις άλλες θάλασσες.
Η πόλις θα σε ακολουθεί. Στους δρόμους θα γυρνάς
τους ίδιους. Και στες γειτονιές τες ίδιες θα γερνάς·
και μες στα ίδια σπίτια αυτά θ' ασπρίζεις.
Πάντα στην πόλι αυτή θα φθάνεις. Για τα αλλού – μη ελπίζεις –
δεν έχει πλοίο για σε, δεν έχει οδό.
Ετσι που τη ζωή σου ρήμαξες εδώ
στην κώχη τούτη την μικρή, σ' όλην την γή την χάλασες.
Die Stadt

Du sprachst: Ich gehe in ein anderes Land, zu einer anderen See,
eine andere Stadt werde ich finden, besser als diese, wo
aller meinen Mühen ist das Scheitern vorgegeben
und mein Herz – als sei es tot – begraben. Wie lange
verharrt noch mein Geist in diesem Morast?
Wohin ich meine Auge wende, wohin ich auch schaue, sehe ich
nur die schwarzen Ruinen meines Lebens hier, wo ich
so viele Jahren verbrachte, verfehlte und verdarb.
Neue Plätze findest du nicht, du findest keine andere Seen.
Die Stadt wird dir folgen. Durch dieselbe Straßen
wirst du streifen, in denselben Vierteln
wirst du altern, im denselben Haus
greiselst du. In dieselbe Stadt wirst du
immer ankommen. Nach anderen Orten
– Hoffnung fahr – gibt es kein Schiff für dich,
keine Straße. Wie du dein leben hier verdarbst,
so hast du es in der ganzen Welt verwüstet.

kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity kavafiscity

Eine georgische Epiphanie


Nur eine Nonne.


Nur Kerzen.
Nur Steine.
Nur eine Kirche.
Nur ein Friedhof.
Und Wänden.
Und Rohre.

Und zitternde Bilder.


Und nur Kinder.
Nur Katzen.
Nur Mönche, nur Priester.
Nur Vögel.
Und Männer.
Und Frauen.



Und verlassene Objekte, die noch ihr vergessenes Leben unter den Trümmern leben.

Und der Himmel über allem.



Keep Ithaka always in your mind.
Arriving there is what you are destined for.
But do not hurry the journey at all.
Better if it lasts for years,
so you are old by the time you reach the island,
wealthy with all you have gained on the way,
not expecting Ithaka to make you rich.

Ithaka gave you the marvelous journey.
Without her you would not have set out.
She has nothing left to give you now.

And if you find her poor, Ithaka won’t have fooled you.
Wise as you will have become, so full of experience,
you will have understood by then what these Ithakas mean.

From Ithaca, Constantin Cavafy


Und Melancholie. Vom Krieg und Exil. Vom Verfall.

Lado Pochkhua ist ein georgischer Maler und Fotograf, deren Werke diesen Monat im Nationalmuseum von Tiflis ausgestellt wurden. Er wurde in Sukhumi geboren, musste aber 1993 nach Tiflis fliehen, wenn Abchasien nach dem Bürgerkrieg seine Unabhängigkeit erklärte, und die Separatisten die georgische Bevölkerung aus der Region vertrieben.

„Im Alter von dreiunzwanzig habe ich alles verloren: Familie, Freunde, meine Heimatstadt, mein Haus, meine Dokumente. In Tiflis habe ich als Flüchtling aus Abchasien ein neues, ungeordnetes und hungriges Leben aufgedeckt. Das heißt, ich bin niemand. Null. Eine Person ohne einer sozialen Funktion. Nach meinem ersten Paket von humanitärer Hilfe, ein US-Army-Kit von Bohnen und Fleisch versprach ich mir, dass is aus dem Unglück, in das ich gefallen war, auskommen wird.“

Die Fotos der Serie „Anatomie der georgischen Melancholie (1993 – 2004)“ wurden aufgenommen, während der Fotograf in Tskneti lebte, in einem Vorort von Tiflis, wo viele Flüchtlinge aus Abchasien nach dem Krieg angesiedelt hatten. An der Zeit lernte Lado Pochkhua Englisch aus einer Kopie von Robert Burtons Anatomy of Melancholy.


Eiche


Ancora cadrà la pioggia
sui tuoi dolci selciati,
una pioggia leggera
come un alito o un passo.
regen wird wieder fallen
auf deine süßen kopfpflaster
leichter regen wie
ein atem wie ein schritt

Cesare Pavese: The cats will know (en)


Überblendung: Spiele

Illustration aus Shaun Tans Ein neues Land

Gestern haben wir mit diesem Bild die absurderweise als ein Kinderspiel dargestellte beklemmende Einwanderungsgeschichte illustriert. Aber man kann nichts absurder als die Wirklichkeit erfinden. Mit solchem Bild wurde schon vor fast hundert Jahren ein echtes Kinderspiel illustriert.

Chemischer Krieg. Sowjetisches Brettspiel von A. V. Kuklin. Staatlicher Verlag, 1925
Siehe unseren Post über die frühen sowjetischen Brettspiele für Kinder

Spiel



Karpatt, Un jeu (A game). From the CD Sur le quai (2011)

Maman m’a montré un jeu quand j’étais tout p’tit
Tu vas voir c’est très marrant on va changer d’pays
Chez nous c’est pas facile, notre cabane est en bois
On va prendre un bateau y a pas d’place pour papa
C’était très rigolo les gens jouaient à tomber dans l’eau
Je sais qu’ils faisaient semblant, je l’sais j’suis pas idiot
Mama hat mir ein Spiel gezeigt, als ich klein war:
du wirst’s sehen, es ist ganz lustig, wir werden Land wechseln
bei uns ist es nicht einfach, unsere Bude ist aus Holz
wir nehmen ein Boot, es gibt keinen Platz für Papa.
Es war sehr lustig, die Leute spielten in Wasser fallen
aber ich weiß, sie fingierten nur, ich bin nicht dumm.


Maman m’a montré un jeu quand j’avais mal au ventre
Tu vas voir c’est très marrant on va jouer à attendre
Quand on s’ra arrivé tu mangeras tout les jours
On gagnera plein d’argent pour faire venir papa un jour
De l’autre côté d’la mer, on a couru sur une plage
Y avait les sirènes de police on s’est caché sous les branchages
Mama hat mir ein Spiel gezeigt, als ich Bauchweh hatte
du wirst’s sehen, es ist ganz lustig, wir spielen Warten,
als wir ankommen, wirst du jeden Tag essen
wir werden eine Menge Geld gewinen, werden auch Papa kommen lassen.
Auf der anderen Seite des Meeres liefen wir an die Küste
es gab Polizeisirenen, wir versteckten uns unter den Zweigen.


Maman m’a montré un jeu faut s’trouver un abri
Tu vas voir c’est très marrant on va camper la nuit
Y avait plein d’gens comme nous qui jouaient à cache-cache
On s’est fait une cabane dans un tuyau avec des vaches
Et puis toute la journée on attendait près des feux rouges
On lavait les voitures toutes les voitures avant qu’elles bougent
Mama hat mir ein Spiel gezeigt, wir müssen ein Asyl finden
du wirst’s sehen, es ist ganz lustig, wir werden in der Nacht lagern.
Es gab viele Menschen wie uns, die Verstecken spielten,
wir machten uns eine Bude auf einem Field mit Kühen.
Dann warteten wir den ganzen Tag an der roten Ampel
wir mussten alle Autos abwaschen, bevor sie sich bewegen.


Maman m’a montré un jeu faut s’trouver d’l’argent
Tu vas voir c’est très marrant faut tendre la main aux gens
Elle rentrait pas souvent, elle travaillait le soir
Elle se faisait très belle pour attendre sur un trottoir
Moi j’aimais pas trop ça quand elle montait dans les voitures
Avec des gars bizarres qui lui faisaient des égratignures
Mama hat mir ein Spiel gezeigt, wir müssen Geld finden
du wirst’s sehen, es ist ganz lustig, du musst nur die Hand aufhalten.
Sie kehrte selten zurück, sie arbeitete in der Nacht
sie hat sich schön gemacht und wartete auf dem Fußsteig.
Ich mochte es nicht, wenn sie in die Autos einstieg
mit seltsamen Kerlen, die ihr Kratzer machten.


Maman m’a montré un jeu faut s’trouver des papiers
Tu vas voir c’est très marrant on va jouer à s’cacher
Les flics nous on trouvé ils ont cogné sur nos têtes
Je savais bien qu’c’était qu’un jeu alors j’ai pas fait la mauviette
J’ai pas pleuré quand on nous a attaché dans l’fond d’un avion
J’ai compris qu’on avait gagné au grand jeu de l’immigration
Mama hat mir ein Spiel gezeigt, wir müssen Papiere finden
du wirst’s sehen, es ist ganz lustig, bis dann spielen wir Verstecken.
Die Polizisten fanden uns, stießen uns vor den Knopf.
Ich wußte, dass es nur ein Spiel war, ob ich es ausstehe
so habe ich nicht geweint, wenn sie uns in Flugzeug geschnallt haben,
ich wußte, dass wir gewannen das große Spiel der Immigration.


Persischer Nachmittag


Eine Moschee zur Gebetszeit
Der Gesang, der bis zum Talkopf klingt


Die sich ausstreckenden Straßen
Der Lärm der eilenden Schritten
Ein Mann, der wie ein Tänzer passiert in seinen weiten Bundfaltenhosen

Die large Tür weit offen zum Innenhof, das blaue Wasserbecken, die kleine, ebenfalls blaue Kuppel, die Pergola
Das Gelispel des Wassers, die Stimme des Predigers, die Frauen in ihren mit Blumen gedruckten Schleiern, das Singen der Zikaden

Weder eine Wand, noch ein Mihrab, um das Gebet zu orientieren, nur der Saal, offen zum Himmel, zu den Felsen, zu den Vögel
Zum Süden

abyaneh1 abyaneh1 abyaneh1 abyaneh1 abyaneh1 abyaneh1 abyaneh1
Moschee von Abyaneh, Provinz Isfahan

Berlin

Unsere Posts über Berlin (klicken zum Vergrößern)

Buhse, der Schuhmacher

„Endlich Hilfe in der Sohlennot!“ Berlin, um 1910.

Von den Fotos von Willy Römer über die Handwerker von Berlin der 1920er Jahren ist ein Beruf auffallend abwesend: derjenige des Schumachers. Zwischen seinen veröffentlichen Fotos habe ich nur das obige gefunden, das keinen wirklichen Schuhmacher, sondern einen Flickschuster darstellt. Das ist kein Wunder. Die Schuhmacherei war ein der ersten Handwerke, die an der Jahrhundertswende Großindustrie geworden waren, und Richard Stade berichtete in seinem Der Niedergang des Schuhmacherhandwerks als Produktionsgewerbe von 1932, dass schon Mitte der zwanziger Jahre konnte das Handwerk nur noch drei Prozent der Neuproduktion bestreiten. Wir lesen dasselbe in der Skizze von Gabriele Tergit, der beliebten Feuilletonistin der Zeit, die zwischen 1924 und 1933 im Berliner Tageblatt eine Reihe mit dem Titel Berliner Existenzen über die charakteristischen Figuren des Berliner Alltagslebens, einschließlich des Schuhmachers, veröffentlichte.

Gabriele Tergit – von ihrem bürgerlichen Namen Elise Hirschmann – wurde 1894 in Berlin, in einer jüdischen großbürgerlichen Familie geboren. Sie lernte Geschichte, Soziologie und Philosophie, und ab 1915 war sie eine der ersten weiblichen Journalisten in Deutschland. Ihre prägnant und eindrucksvoll geschriebenen Gerichtsreportagen – sie berichtete unter anderem über die Preßprozesse von Hitler und Goebbels – machten ihr einen Namen, aber sie schrieb regelmäßig auch über die Berliner Alltäge (und diese Artikel wurden jeweils im Prager Tageblatt nachgedruckt). 1931 veröffentlichte sie auch einen Roman mit dem Titel Käsebier erobert den Kurfürstendamm, in dem sie durch die Welt der Neuköllner Vergnügungslokale über die Macht der Werbung und Propaganda schrieb, mit einer Vorahnung der Propaganda von Goebbels. Aber sie schrieb auch über die Kulturgeschichte der Blumen, deren Titel auch die Kaiserkrone enthält.  1933 gelang es ihr mit einem unglaublichen Glück, der NS-Säuberung zu entkommen und nach London zu fliehen, aber damit wurde ihre Karriere als Schriftsteller, wie von vielen anderen deutschen Flüchtlingen, unterbrochen. In ihrer Heimat wurde sie erst 1977, anlässlich der „Berliner Festwochen” entdeckt. Sie starb 1982 in London. Ihre über die Berliner Alltäge geschriebene Skizzen wurden 1994 mit dem Titel Atem einer anderen Welt: Berliner Reportagen von Jens Brüning bei Suhrkamp gesammelt.

Buhse, der Schuhmacher

Buhse ist Flickschuster und hat seine Werkstatt im Keller eines vornehmen Hauses. In diesem Keller stehen zwei Vertikos mit unzähligen Verlosungs- und Schießbudennippes, Klavier, Kleiderschränke, Sofa, Tisch und Stühle und eine spanische Wand, die die Schlafgelegenheiten verdeckt. Am Fenster ist ein Tritt für die Werkstatt. Schmuck des Zimmers aber ist ein großes gerahmtes Diplom, links unten Gretchen oder Evchen am Spinnrocken, um den Putten ein Band flattern lassen, und rechts hält eine Frauengestalt – die Freiheit oder Elektrizität oder das Gewerbe – eine Fackel hoch. Das Ganze ist das Diplom zu einer silbernen Medaille der 35. Schuhmacherausstellung zu Biesteritz.

Buhse ist der Sohn eines Tischlers in Pasewalk. Als er 25 Jahre alt war, hatte er die Jungfer der Gräfin Zetlitz geheiratet und als Hochzeitsgeschenk eine goldene Pendule bekommen. Sie hielt ihren Haushalt herrschaftlich und sprach nicht mit der Portiersfrau. Buhse machte Stiefeletten und Saffianpantöffelchen und Zugstiefel. Mit der Zeit kamen immer weniger Neuanfertigungen und immer mehr Besohl- und Flickarbeit an Schuhen, die er selber viel besser gemacht hätte. Als die ersten grauen Haare kamen, färbte er sie schwarz. Sein Sohn hatte ein liederliches Mädchen geheiratet und verkam. Buhse blieb eine Enkelin, die früh heiratete und das erste Kind bekam. So hatte er noch Kindergeschrei in dem engen Keller auf seine alten Tage.

Im I. Stock sagte die Frau Konsul zu ihrem Gatten: »Ich habe noch nie einen so guten Schuster gehabt, dem würde ich sogar meine Seidenpumps anvertrauen.« Der Konsul sah von seiner Zeitung auf: »Ja, ja, gute Handwerker sind selten geworden. Solche Leute muß man unterstützen, man müßte ihm etwas zu verdienen geben.« So bekam nach 12 Jahren Meister Buhse einen Auftrag auf neue Stiefel. Er kam mit einem Bogen Papier und einem Bleistift bewaffnet. Es wurde Maß genommen.

Von früh bis abends lief Buhse durch die Lederhandlungen und sah sich Kalbfelle an. Er verstand sich auf Leder. Wenn er zu spät zu Tisch kam und die Enkelin keifte, so lächelte er nur, er handelte lange, aber dann hatte er es, das tadellose Stück Kalbfell, dieses Gedicht, dieser Traum, dieses Ideal von einem Kalbfell. Kein bißchen Pappe kam in die Stiefel.

»Mein lieber Herr Buhse«, sagte der Herr Konsul, »es tut mir sehr leid, die Stiefel sind viel zu eng. Sehen Sie zu, daß Sie sie ändern, sonst…« – »Aber ich bitte«, fiel ihm Meister Buhse ins Wort, »ich werde selbstverständlich ein Paar neue machen.« Buhse versuchte zu ändern. Es gelang nicht. »Das kommt davon«, sinnierte er, während er ein Paar neue begann, »das kommt davon. Da sitzt man nun und sitzt und quält sich, damit man die Münder stopfen kann und für die Miete und die Steuer, und dabei verlernt man alles und flickt ewig und macht Hacken gerade und besohlt und beflickt, und wenn mann dann wirklich einmal zeigen könnte, was man kann, dann kann man nichts mehr.« Das zweite Paar wurde vollendet.

»Meine Liebe«, sagte der Konsul zu seiner Frau, »ich kann die neuen Stiefel von Buhse auch nicht tragen, sie drücken.«

»Ich sage es ja«, erwiderte die Frau triumphierend, »was du für die rückständigen Handwerker übrig hast, man kann gar nicht genug Fenster aufmachen.« Sie hat in ihrer JUgend sehr viel Ibsen gelesen. Buhse wartete. Auf eine goldene Medaille für das Musterpaar als Kalblederstiefel oder auf seine Ernennung zum Innungsmeister oder auf den gerührten Besuch des Herrn Konsul: »Ihre Stiefel! Wie eine Biene läuft man damit! Meine sämtlichen Bekannten lassen nur noch bei Ihnen arbeiten.« Zwei Wochen vergingen, da stellte sich Buhse ihm in den Weg. »Sie sind ja ganz schön gearbeitet«, sagte der Konsul, »doch sie drücken etwas. Aber man kann sie ganz gut tragen«, sagte er, als er Buhses Gesicht sah.

»Sie merken eben nichts«, dachte Buhse, »ob du Pappeinlage nimmst oder gutes Leder, ob du ordentlich mit einer Stahlschiene arbeitest oder nicht, sie merken nichts, sie merken nichts, es ist ihnen alles egal.« Abends saßen Koller, der Tapezierer Koller aus der Gneisenaustraße, und der Tischler Koblank zusammen. »Sie merken nichts«, sagte Buhse, »ob man Pappeinlage nimmt oder gutes Leder, ob man ordentlich mit einer Stahlschiene arbeitet oder nicht, sie merken nichts.« »Ja«, sagte Koller, »kaufen die Chaiselongues für 39,40 Mark. Haben ja keine Ahnung. Ich weiß, wie’s gemacht wird, am Abend wird die Werkstatt aufgekehrt und die abgefallene Wolle, aller Dreck zusammengekehrt, immer mang die Füllung genommen. Die Menschen sind ja so dämlich, besonders die Damen, huppen mal so’ bißchen drauf, sehen sich den Stoff an und sagen: >Die is aber wirklich preiswert!< Von Inwendig verstehen sie ja nichts.«

Koblank antwortete: »Gestern ist der Einkäufer von Morgentau wieder dagewesen. Nur billig, is dem ganz egal, ob das Holz reißt nachher oder nicht, doppelt verleimt macht kein Mensch mehr. Die Menschen sind so dumm, wenn’s lange dauert, dann sind sie unzufrieden, statt sich zu sagen, der Mann macht gute Arbeit.«

»Aber wenn sie Ballen haben und verkrüppelte Zehen, dann haben sie vielleicht ein Einsehen«, sagte Buhse, der Schuhmacher.

»Auch dann nicht«, sagte Koller und gab ein à tout aus.

Lob des Handwerks

„Der Leiermann mit dem Äffchen, das zur Belustigung der Kinder Kunststücke machte, und
dann Geld für den Leiermann und Süßigkeiten für sich einsammelte. (1925)“
(Die Bildunterschriften in Ausführungszeichen wurden von Willy
Römer auf der Rückseite der Fotos geschrieben.)

Der Leierkasten und der Leierkastenmann scheinen schon ständige Begleiter des Río Wang zu sein, als ob sie zwischen zwei Akten einer persischen Operette vor den Vorhang treten würden, um während der Umstellung der Bühne eine traurige und verstimmte Melodie aufzuführen. Auch dieser Leierkastenmann ist schon hier aufgetreten, zusammen mit seinen damaligen und späteren Kollegen aus Berlin.


Franz Schubert, Die Winterreise Op. 89. XXIV: Der Leiermann. Aufgeführt von Dietrich Fischer Dieskau

Der Fotograf, Willy Römer (1887-1979), war einer der bedeutendsten Fotojournalisten in Berlin zwischen den beiden Weltkriegen. Er begann den Beruf 1903 im Alter von sechzehn Jahren bei der ersten Pressefoto-Gesellschaft von Berlin, der Berliner Illustration-Gesellschaft zu lernen, und später nahm ihn sein Meister, Karl Delius, auch nach Paris für vier Jahre mit. Im Weltkrieg war er Soldat an der Ostfront, aber auch dort nahm er seine schwere 13×18 Kamera mit, und machte Hunderte von Aufnahmen in Russisch-Polen, Weißrussland und im jüdischen Viertel von Warschau, bezeichnenderweise nicht über die militärischen Aktionen, sondern über das lokale Leben – wir werden noch darüber schreiben. Und am Ende 1918, nachdem er nach Berlin zurückkehrte, schlug er sich von morgens bis abends durch die Straßen und fotografierte den Aufstand, einschließlich den Moment seiner eigener Verhaftung.

Haftbefehl gegen den die Revolutionäre fotografierenden Willy Römer
auf der Lindenstraße, 5 Januar 1919.

Nach der Heimkehr übernahm er von seinem Kollegen Robert Sennecke die von kurzem gegründete Firma Phototek an der Belle-Alliance-Straße 82 (heute Mehringdamm 58), und nachdem sein Kollege aus Paris, Walter Bernstein als Vertriebsleiter 1920 Mitinhaber wurde, machten sie das Unternehmen zu einer der wichtigsten Pressefoto-Agenturen von Berlin zwischen den beiden Weltkriegen. Römer und seine vier so genannte Operateure gingen den ganzen Tag durch die Stadt aufgrund der am Morgen aus der Zeitungen ausgewählten Ereignisse, und sie schickten täglich 10-12 Fotos an etwa 250 Redaktionen auf der ganzen Welt.

Der Pressefotograf Walter Gircke mit seiner Kamera in Blickkontakt mit Willy Römer
während des Empfangs heimkehrender Truppen am Brandenburger Tor.
Berlin, vermutlich am 10 Dezember 1918.

Die Blüte der Photothek wurde 1933 unterbrochen, als das neue Regime die Phototek wegen Bernsteins Herkunft für eine „Judenfirma“ erklärte und der deutsche Presse verboten hat, von ihnen Fotos zu kaufen. Das Unternehmen musste bald Konkurs anmelden, und Römer arbeitete weiter als „einsamer“ Fotograf unter schwierigen Bedingungen.

Willy Römer: Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte durch die SA,
Friedrichstraße. Berlin, 1 April 1933

Aber entweder als Eigentümer einer renommierten Pressefotoagentur, der es sich leisten kann, einen Teil des Arbeitstages seiner Leidenschaft zu widmen, oder als einsamer Fotograf, der bei Mangel an Aufträgen mit seinem eigenen Hobby umgehen kann, hat Willy Römer immer fotografiert, was er liebte: das tägliche Leben von Berlin. Das Leben auf der Straße, politische Ereignisse, Kinderspiele, Flussschiffe, Innenhöfe, Schausteller und Bärenführer. Und, natürlich Leierkastenmänner.

„Ein anderer Leiermann, ein anderes Äffchen, aber eingesammelt werden auch hier
Geld und Süßigkeiten. (1925)“

Wir sind schon daran gewöhnt, dass die Fotos der Leierkastenmänner ihre konventionelle Einstellung haben. Diese sind Genreszenen, meist mit einem abgenutzt aussehenden, komisch oder nostalgisch anakronistischen alten Mann und Musikkasten, worauf der Fotograf, wie auf eine Figur einer vergangenen Zeit, mit Erstaunen sieht, und wer selbst nicht seinen Platz in dieser Welt findet. Die Leierkastenmann-Fotos Römers folgen aber nicht diesem Klischee. Für ihn fügte sich das Fotografieren der Leierkastenmäner in ein größeres Konzept ein: die detaillierte Dokumentation der zeitgenössischen Handwerke in Berlin.

„Aufzeichnen der neuen Musikstücke auf die Walze mit dem Zeichenapparat nach dem Notenblatt. (1929)“


Die aufgezeichnete Musik ist eigentlich Bill Murrays Pucker Up and Whistle aus 1921, ein zum Leierkasten wirklich passendes Stück. Für seine Video mit Untertiteln siehe hier.

„In die vorgezeichnete Walze des Leierkastens werden Stifte und Klammern für die neuen Musikstücke eingesetzt. (1929)“

Die Ikonographie der Arbeit begann sich in der Fotografie relativ spät, um die Jahrhundertwende zu entwickeln, vor allem als eine Kritik der entfremdeten Arbeit in den großen Industriebetrieben und um deren Alternativen aufzuweisen, zuerst durch mehr oder weniger idealisierten Genreszenen der ländlichen Arbeiten und des traditionellen Handwerks und später durch politisch aufgeladenen Arbeiterdarstellungen. Willy Römers Berliner Arbeitfotografien passen jedoch zu keinem dieser Trends. Er selbst wuchs in einer Berliner Handwerkerfamilie als Sohn eines Schneidermeisters auf, und er interessierte sich vor allem dafür, die handwerklichen Arbeiten, die im Berlin der 20er Jahre noch 300.000 Menschen – einem Drittel der Arbeiter – Brot gaben, objektiv und in ihrem Kontext zu dokumentieren. Er hat den kompletten Arbeitsprozess der Bäcker, Schornsteinfeger, der Wäscherinnen von Köpenick, der Schiffer und Fischer, Nagelschmiede, Feilenhauer und Straßenhändler in detaillierten Fotoserien festgehalten.


Zu diesen Arbeiten gehört auch die Serie des Leierkastenmannes, die Römer mit seiner Kamera von Anfang an, von der Bereitung der Drehorgel und der Einpassung der Melodienwalzen bis zur Einrichtung der Straßenproduktionen folgt. Seine Fotos stellen den Leierkastenmann nicht als eine anachronistische Figur, sondern als einen seinen Beruf professionell ausübenden Handwerker dar, und eröffnen auch den Kontext der Produktionen, die Zusammenarbeit des Leierkastenmannes, der Artisten und des Publikums.


Der fast 70.000 Stücke Fotonachlass von Willy Römer, einer der wenigen kompletten Fotoarchiven aus der Weimarer Zeit wurde, nachdem ihn seine Witwe und Tochter vergeblich an mehreren Berliner Museen zum Verkauf anboten, schließlich von Diethart Kerbs, dem vor kurzem verstorbenen renommierten Fotohistoriker der Kunsthochschule Berlin-Charlottenburg, gekauft. Er veröffentlichte eine erste Auswahl von ihnen in dreißig thematischen Heften zwischen 1983 und 1991 mit dem Titel Edition Phototek beim Dirk Nishen Verlag in Kreuzberg. Der erste Band der Reihe stellt gerade die Leierkastenmänner dar. Diethart Kerbs schreibt über sie in der Nachschrift des Heftes:

„In einer Zeit, als es noch keine Radios, Plattenspieler und Cassettenrecorder gab, als auch das Fernsehen noch nicht erfunden war, vermittelten die Leierkästen und andere Arten von Hof- und Straßenmusikanten die sinnlichen Genüsse für das ohr breiter Bevölkerungsschichten. Der süße Sirup leichter Melodien auf dem Schwarzbrot des Alltags, willkommener Anlaß, um aus dem Fenster zu schauen, vor die Laden- oder Werkstatt-Tür zu treten, auf den Hof zu laufen, eine Pause einzulegen, einen nachbarlichen Schwatz zu halten: Musik als gesellschaftliches Ereignis. Die Leierkastenmänner brachten die Ware des Wohlklangs kostenlos in die Hinterhöfe und mußten um das Entgelt, das ihnen in kleinen Münzen aus dem Fenster zugeworfen wurde, bitten. Sie mußten sich den Lebensunterhalt auf langen Wanderungen durch die Stadt zusammenspielen.

Es gab zwei Klassen von Leierkastenmännern: eine Oberschicht, die eigene Leierkästen besaß und eine Unterschicht, die sich die Apparate gegen eine Mietgebühr leihen mußte. Im Norden Berlins gab es einen Schwerpunkt des Drehorgelbaus und -verleihs. Dort lebten überwiegend Arbeiter und Handwerker, darunter viele Einwanderer aus den östlichen Ländern Europas, aber auch aus Italien. Zu den Italienern des Berliner Nordostens gehörte die Familie Bacigalupo, die 1877 in der Schönhauser Allee 74 ihre Drehorgelfabrik errichtete und später in die Nr. 74a verlegte. Ein anderer Zweig der Familie betrieb bereits vor dem 1. Weltkrieg eine zweite Firma in der Schönhauser Allee 79. In diesen Werkstätten wurdn Leierkästen hergestellt, repariert, neu bestückt, verkauft und vermietet.“


Die Fotos von Willy Römer wurden in den letzten Jahren wiederentdeckt. 2004 hat das Deutsche Historische Museum in Berlin und dann das Museum der Stadt Wien eine Ausstellung von ihnen organisiert, und seitdem wurden mehrere seine Alben veröffentlicht. Bald werden wir auch über seine anderen Themen schreiben.

„Der Leiermann auf der Eisbahn. Als es noch keine Radiomusik aus dem Lautsprecher gab, begnügte sich die Berliner Jugend mit der althergebrachten Leierkastenmusik beim Schlittschuhlaufen. Und es ging auch. (1912)“