Lob des Handwerks

„Der Leiermann mit dem Äffchen, das zur Belustigung der Kinder Kunststücke machte, und
dann Geld für den Leiermann und Süßigkeiten für sich einsammelte. (1925)“
(Die Bildunterschriften in Ausführungszeichen wurden von Willy
Römer auf der Rückseite der Fotos geschrieben.)

Der Leierkasten und der Leierkastenmann scheinen schon ständige Begleiter des Río Wang zu sein, als ob sie zwischen zwei Akten einer persischen Operette vor den Vorhang treten würden, um während der Umstellung der Bühne eine traurige und verstimmte Melodie aufzuführen. Auch dieser Leierkastenmann ist schon hier aufgetreten, zusammen mit seinen damaligen und späteren Kollegen aus Berlin.


Franz Schubert, Die Winterreise Op. 89. XXIV: Der Leiermann. Aufgeführt von Dietrich Fischer Dieskau

Der Fotograf, Willy Römer (1887-1979), war einer der bedeutendsten Fotojournalisten in Berlin zwischen den beiden Weltkriegen. Er begann den Beruf 1903 im Alter von sechzehn Jahren bei der ersten Pressefoto-Gesellschaft von Berlin, der Berliner Illustration-Gesellschaft zu lernen, und später nahm ihn sein Meister, Karl Delius, auch nach Paris für vier Jahre mit. Im Weltkrieg war er Soldat an der Ostfront, aber auch dort nahm er seine schwere 13×18 Kamera mit, und machte Hunderte von Aufnahmen in Russisch-Polen, Weißrussland und im jüdischen Viertel von Warschau, bezeichnenderweise nicht über die militärischen Aktionen, sondern über das lokale Leben – wir werden noch darüber schreiben. Und am Ende 1918, nachdem er nach Berlin zurückkehrte, schlug er sich von morgens bis abends durch die Straßen und fotografierte den Aufstand, einschließlich den Moment seiner eigener Verhaftung.

Haftbefehl gegen den die Revolutionäre fotografierenden Willy Römer
auf der Lindenstraße, 5 Januar 1919.

Nach der Heimkehr übernahm er von seinem Kollegen Robert Sennecke die von kurzem gegründete Firma Phototek an der Belle-Alliance-Straße 82 (heute Mehringdamm 58), und nachdem sein Kollege aus Paris, Walter Bernstein als Vertriebsleiter 1920 Mitinhaber wurde, machten sie das Unternehmen zu einer der wichtigsten Pressefoto-Agenturen von Berlin zwischen den beiden Weltkriegen. Römer und seine vier so genannte Operateure gingen den ganzen Tag durch die Stadt aufgrund der am Morgen aus der Zeitungen ausgewählten Ereignisse, und sie schickten täglich 10-12 Fotos an etwa 250 Redaktionen auf der ganzen Welt.

Der Pressefotograf Walter Gircke mit seiner Kamera in Blickkontakt mit Willy Römer
während des Empfangs heimkehrender Truppen am Brandenburger Tor.
Berlin, vermutlich am 10 Dezember 1918.

Die Blüte der Photothek wurde 1933 unterbrochen, als das neue Regime die Phototek wegen Bernsteins Herkunft für eine „Judenfirma“ erklärte und der deutsche Presse verboten hat, von ihnen Fotos zu kaufen. Das Unternehmen musste bald Konkurs anmelden, und Römer arbeitete weiter als „einsamer“ Fotograf unter schwierigen Bedingungen.

Willy Römer: Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte durch die SA,
Friedrichstraße. Berlin, 1 April 1933

Aber entweder als Eigentümer einer renommierten Pressefotoagentur, der es sich leisten kann, einen Teil des Arbeitstages seiner Leidenschaft zu widmen, oder als einsamer Fotograf, der bei Mangel an Aufträgen mit seinem eigenen Hobby umgehen kann, hat Willy Römer immer fotografiert, was er liebte: das tägliche Leben von Berlin. Das Leben auf der Straße, politische Ereignisse, Kinderspiele, Flussschiffe, Innenhöfe, Schausteller und Bärenführer. Und, natürlich Leierkastenmänner.

„Ein anderer Leiermann, ein anderes Äffchen, aber eingesammelt werden auch hier
Geld und Süßigkeiten. (1925)“

Wir sind schon daran gewöhnt, dass die Fotos der Leierkastenmänner ihre konventionelle Einstellung haben. Diese sind Genreszenen, meist mit einem abgenutzt aussehenden, komisch oder nostalgisch anakronistischen alten Mann und Musikkasten, worauf der Fotograf, wie auf eine Figur einer vergangenen Zeit, mit Erstaunen sieht, und wer selbst nicht seinen Platz in dieser Welt findet. Die Leierkastenmann-Fotos Römers folgen aber nicht diesem Klischee. Für ihn fügte sich das Fotografieren der Leierkastenmäner in ein größeres Konzept ein: die detaillierte Dokumentation der zeitgenössischen Handwerke in Berlin.

„Aufzeichnen der neuen Musikstücke auf die Walze mit dem Zeichenapparat nach dem Notenblatt. (1929)“


Die aufgezeichnete Musik ist eigentlich Bill Murrays Pucker Up and Whistle aus 1921, ein zum Leierkasten wirklich passendes Stück. Für seine Video mit Untertiteln siehe hier.

„In die vorgezeichnete Walze des Leierkastens werden Stifte und Klammern für die neuen Musikstücke eingesetzt. (1929)“

Die Ikonographie der Arbeit begann sich in der Fotografie relativ spät, um die Jahrhundertwende zu entwickeln, vor allem als eine Kritik der entfremdeten Arbeit in den großen Industriebetrieben und um deren Alternativen aufzuweisen, zuerst durch mehr oder weniger idealisierten Genreszenen der ländlichen Arbeiten und des traditionellen Handwerks und später durch politisch aufgeladenen Arbeiterdarstellungen. Willy Römers Berliner Arbeitfotografien passen jedoch zu keinem dieser Trends. Er selbst wuchs in einer Berliner Handwerkerfamilie als Sohn eines Schneidermeisters auf, und er interessierte sich vor allem dafür, die handwerklichen Arbeiten, die im Berlin der 20er Jahre noch 300.000 Menschen – einem Drittel der Arbeiter – Brot gaben, objektiv und in ihrem Kontext zu dokumentieren. Er hat den kompletten Arbeitsprozess der Bäcker, Schornsteinfeger, der Wäscherinnen von Köpenick, der Schiffer und Fischer, Nagelschmiede, Feilenhauer und Straßenhändler in detaillierten Fotoserien festgehalten.


Zu diesen Arbeiten gehört auch die Serie des Leierkastenmannes, die Römer mit seiner Kamera von Anfang an, von der Bereitung der Drehorgel und der Einpassung der Melodienwalzen bis zur Einrichtung der Straßenproduktionen folgt. Seine Fotos stellen den Leierkastenmann nicht als eine anachronistische Figur, sondern als einen seinen Beruf professionell ausübenden Handwerker dar, und eröffnen auch den Kontext der Produktionen, die Zusammenarbeit des Leierkastenmannes, der Artisten und des Publikums.


Der fast 70.000 Stücke Fotonachlass von Willy Römer, einer der wenigen kompletten Fotoarchiven aus der Weimarer Zeit wurde, nachdem ihn seine Witwe und Tochter vergeblich an mehreren Berliner Museen zum Verkauf anboten, schließlich von Diethart Kerbs, dem vor kurzem verstorbenen renommierten Fotohistoriker der Kunsthochschule Berlin-Charlottenburg, gekauft. Er veröffentlichte eine erste Auswahl von ihnen in dreißig thematischen Heften zwischen 1983 und 1991 mit dem Titel Edition Phototek beim Dirk Nishen Verlag in Kreuzberg. Der erste Band der Reihe stellt gerade die Leierkastenmänner dar. Diethart Kerbs schreibt über sie in der Nachschrift des Heftes:

„In einer Zeit, als es noch keine Radios, Plattenspieler und Cassettenrecorder gab, als auch das Fernsehen noch nicht erfunden war, vermittelten die Leierkästen und andere Arten von Hof- und Straßenmusikanten die sinnlichen Genüsse für das ohr breiter Bevölkerungsschichten. Der süße Sirup leichter Melodien auf dem Schwarzbrot des Alltags, willkommener Anlaß, um aus dem Fenster zu schauen, vor die Laden- oder Werkstatt-Tür zu treten, auf den Hof zu laufen, eine Pause einzulegen, einen nachbarlichen Schwatz zu halten: Musik als gesellschaftliches Ereignis. Die Leierkastenmänner brachten die Ware des Wohlklangs kostenlos in die Hinterhöfe und mußten um das Entgelt, das ihnen in kleinen Münzen aus dem Fenster zugeworfen wurde, bitten. Sie mußten sich den Lebensunterhalt auf langen Wanderungen durch die Stadt zusammenspielen.

Es gab zwei Klassen von Leierkastenmännern: eine Oberschicht, die eigene Leierkästen besaß und eine Unterschicht, die sich die Apparate gegen eine Mietgebühr leihen mußte. Im Norden Berlins gab es einen Schwerpunkt des Drehorgelbaus und -verleihs. Dort lebten überwiegend Arbeiter und Handwerker, darunter viele Einwanderer aus den östlichen Ländern Europas, aber auch aus Italien. Zu den Italienern des Berliner Nordostens gehörte die Familie Bacigalupo, die 1877 in der Schönhauser Allee 74 ihre Drehorgelfabrik errichtete und später in die Nr. 74a verlegte. Ein anderer Zweig der Familie betrieb bereits vor dem 1. Weltkrieg eine zweite Firma in der Schönhauser Allee 79. In diesen Werkstätten wurdn Leierkästen hergestellt, repariert, neu bestückt, verkauft und vermietet.“


Die Fotos von Willy Römer wurden in den letzten Jahren wiederentdeckt. 2004 hat das Deutsche Historische Museum in Berlin und dann das Museum der Stadt Wien eine Ausstellung von ihnen organisiert, und seitdem wurden mehrere seine Alben veröffentlicht. Bald werden wir auch über seine anderen Themen schreiben.

„Der Leiermann auf der Eisbahn. Als es noch keine Radiomusik aus dem Lautsprecher gab, begnügte sich die Berliner Jugend mit der althergebrachten Leierkastenmusik beim Schlittschuhlaufen. Und es ging auch. (1912)“

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