Rosa Postkarten 1.

Diese Briefe, die wir nun zu veröffentlichen beginnen, folgten einander für viele Jahren. Wir wollen auch, mit Gottes Hilfe, sie während der gleichen Zeitperiode veröffentlichen, jedes von ihnen genau hundert Jahre nachdem es gesendet wurde.

Lernen wir zuerst (zumindest oberflächlich) die Empfänger und den Absender dieser Briefe kennen.

Das Mädchen, Antonia Zajac wurde 1896 in einem westgalizischen Dorf, Cieklin, im Tal des Dunajec geboren.
Ihre Vorfahren stammten aus einer Kleinadelsfamilie, die ihr Vermögen mit Lustbarkeiten und auf Karten allmächlich verloren. Ihr Vater, der schwierig ertrug, dass er als Angestellte in ihren ehemaligen Gutshof arbeiten musste, entschied sich, anstatt der stetigen Scham nach Amerika auszuwandern.
Aus iher Heimat schien es am einfachsten durch einen Adriahafen abzureisen, der den selbstverständigen Weg für die große Auswanderungswelle der Bürger der Monarchie darstellte. Als sie aber an Budapest ankamen, der Vater starb, und die Mutter mit ihren vier Kindern blieb in der fremden und anscheinend hoffnungslosen Stadt. Aber Óbuda – Altofen, der halb landwirtschaftliche, halb industrielle nördliche Vorort von Buda, der Budapest 1873 beitreten wird – hat die Waisen nicht verlassen, so wie sie auch viele anderen obdachlosen Familien unter ihrer Obhut nahm. Sie nahm unter ihre Schutzflügel die Söhne und Töchter der ungarischen, deutschen, jüdischen, slawischen und anderen ethnischen Gruppen, die von der Armut und von einem gemeinsamen Instinkt des Überlebens zusammengebunden waren.
Der älteste Junge, Feri, wurde Polsterergeselle. Zwischen seinen drei jüngeren Schwestern, Antónia (eine der Hauptdarsteller unserer Geschichte) war in einer Posamenterie beschäftigt, während Vera und Manci bekamen Arbeit in der renommierten lokalen Goldberger Textilfabrik, die Goli, wie es allgemein genannt wurde.


Der andere Hauptdarsteller unserer Geschichte, Károly Timó (geb. Szedlák) wurde 1892 als Sohn einer Jungfrau, Katalin Szedlák geboren, und von einem gutherzigen kinderlosen Schuster von Óbuda, Ferenc Timó und seine Frau, geborene Anna Hautschild angenommen.

Károly Timó wuchs in Óbuda. Nach der Grundschule wurde er Posamentierlehrling, und später Posamentierergeselle. Die Werkstatt seines Meisters Bernát Reiner war im Bezirk Terézváros/Theresienstadt, in einem der damals noch neuen Häuser der Johannes Kleine Gasse (später János Kis und Piroska Szalmás, jetzt László Németh Straße). Der Junge hatte weit zu gehen, um die Werkstatt zu erreichen. Die Straßenbahn war umständlich und teuer, so dass er jeden Morgen die Donau mit dem Propeller überquerte, und eine dreiviertel Stunde durch die Bezirke Angyalföld/Engelsfeld und Erzsébetváros/Elisabethstadt lief.

Allerdings wurden die kurzen Wochenenden für Privatleben vorbehalten. Der gemeinsame Wohnsitz in Óbuda, und der gemeinsame Beruf brachte die jungen Menschen nah zueinander. Das Zusammenhalten und die Familiengründung bedeutete auch eine Chance, mit den Schwierigkeiten des Lebens durchzukommen.

Dieses Foto des zarten polnischen Mädchens mit täumerischen Augen ist ein Dokument der angehenden Beziehung, eines bescheidenen Flirts.


Am 29. Okt. 1913. Zum Andenken, für Károly T., von Antónia Z.

Ihre Augen sind klar blau, das kann man auch aus den verblichenen Gesichtszüge herausnehmen. Der verfettete und abgebröckelte untere Teil des etwa abgenutzten Fotos zeigt, dass der Besitzer das ihm geschenkte Bild für eine lange Zeit mit sich getragte.

Die Studiofotos des jungen Paares deuten auf eine ernsthafte Beziehung hin, und darauf, dass eine Ehe in der nahen Zukunft geplant war.


Aber, als wir wissen, alles wurde geprüft und erwogen. Die Maschine wurde angefahren. Mit Optimismus, mit dem Versprechen des bevorstehenden Sieges. Ehe noch die Blätter fallen…

Die erste Rosa Postkarte



Name des Absenders: Károly Timó
Addresse: An das geehrte Fräulein Antónia Zajác
III. Bezirk, Kis Korona Straße 52.
Budapest

am 28. [August 1914]

Mein lieber Sohn [beachten Sie die typische Ansprache der Ehemänner und Bräutigame an der Jahrhundertwende!]
Ich schreibe diese Zeilen, während ich in Szerencs am Morgen Speck brate. Was sagst du zu dieser Überraschung? Ich dachte, dass ich noch am 10ten [September] in Budapest sein werde, Die Fahrt ist sehr angenehm, obwohl wir sehr langsam gehen. Ich schlief in Miskolc, jetzt gehe ich nach Sátoraljaújhely, und von dort nach Mezőlaborc [in 2014, Medzilaborce, Slovakei]. Während der Fahrt werden wir warme Mahlzeit bekommen, als man kocht für uns. Für einige 3-4 Tage wird es uns noch gut gehen, und dann werden wir beginnen, Soldaten zu spielen. Ich umarme und küsse dich
Károly

Meine Grüße an deine Mutter und Schwestern, und an meine Eltern.


[Die erste Postkarte wurde auf dem Weg zur Front geschrieben. Ein cooles Soldatenspielen ist in Aussicht!]

Nächste Postkarte: 25 September 1914

Von der Welt verborgen


Wir hielten das Auto unter den Bäumen, gleich nach dem Wegweiser zur Kirche. Große Bäume. Ein Gitter. Steine.
Ein Haus auf der linken Seite, wovon ein junger Mann tritt vor.
— You want to visit the church, maybe. I can open it for you.Er geht ein bißchen gebückt, sein Gesicht ist von der Hitze gerötet. Er schüttelt die Hände. Ein junger Mann in verblichenen blauen T-Shirt, blumigen Shorts und Badeschuhe aus blauen Kunststoff.
— I’m the priest, even if I don’t look like one.

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Das Dorf drunten ist verlassen, kein Gesicht in den Fenstern, kein Schatten, keine Stimme, kein Hund um uns zu bellen und vor die Räder zu springen. Eine Katze, die bei meiner Annäherung flieht. Gebinde von Zwiebeln und Knoblauch hängen an den Veranden, leere Milchkannen. Traueranzeige an einer Stange angeheftet. Und, wie eine plötzliche Zauber, zwei Traktoren kreuzen sich den Weg mit voller Geschwindigkeit vor mir, bevor sie wieder verschwinden.

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Wir gehen hinder dem Priester. Man muss die Treppen steigen, durch einen Tor passieren, der im Trockensteinmauer öffnet, die Kiefern- und Lindenbäume hinter sich lassen, die ihre Äste biegen, um das zu bedecken, was versteckt bleiben muss. So ist die Kirche von Borač seit Jahrhunderten von der Welt verborgen, im Schutz des sich hinter ihr erhebenden Felsens, sie selbst ein Felsen zwischen den Felsen.


Glaubt er an sie? Ja, sagt er, er sei sicher, es gab eine Stadt dort drüben, eine riesige Stadt, und diese Kirche war die Kathedrale. Es war eine wohlhabende Stadt, eine mächtige Stadt. Die Fresken der Kirche bezeugen das: Erzengel in Rüstung, Heiligen ernster Gesichtern, Konstantin und Helena, die das wahre Kreuz zeigen, ein Alter der Apokalypse Angesicht zu Angesicht mit der Arche Noah, Christus Pantokrator und Christus Emmanuel auf beiden Seiten der Tür, die die winzige Vorhalle mit dem winzigen Naos verbindet, und endlich der Ikonostase naiver Malerei.

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Aber wo war die Stadt?
— Up there, you see, all these rocks — the city was there.

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Gibt es Ruinen drüben? Er zögert.
Ja, Ruinen, alles ist in Ruinen, man kann nichts sehen. Ja, er ist einmal aufgegangen, als er hierher kam.


Er zeigt uns den Steinhaufen, den Felsen, der märchenhafte Stadtmauern auf den Himmel zeichnet, der Erdrutsch, der den Pfad zur toten Stadt versteckt. Und ich denke an alle die unter Wasser begrabenen Städte, an die Stadt von Ys unter dem Meer vor der Küste von Bretagne, an Kitesch unter dem Wasser des Sees Svetlojar, dessen Glocken nur die reinen Seelen hören können. An Borač in Zentralserbien, eine am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, im Tumult der vorrückenden Osmanen, als die Umgebung von seiher fliehenden Bevölkerung aufgegeben wurde, in der Luft verschlungene, durch den Felsen einverleibte Stadt.
Glaubt unser in seiner Wüste verlorene junger Priester daran?
— The city was up there, see.

Wir machen uns auf den Weg.
Als wir wieder ins Auto sitzen, noch ein letzter Blick um uns herum, und hinter uns, siehe da, eine von dem hohen Gras versteckte andere Stadt. Es gibt kein einziger Grab in diesem Friedhof, der nicht von den alten Jahrhunderten stammt, keiner, der auf jemanden aus dem Dorf drunten wartet, kein Kreuz, der sich nicht zum Felsen wendet.

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Multikulti

V/24 [24. Mai 1900.] Ihre werte atress [Adresse] habe ich von Herrn Jenö Singer erhalten, und bitte meiner auch gedenken mit Gruß: Franz Horváth. / Meine atresse [Adresse] ist. Budapest II. Bez[irk], Csónak gasse N° 13.

An [den] Wohlgeboren[en] Herrn Anastagi Piero. Rue Vacchereccia 7. Florence, Italien.

Diese in mit Französisch gemischtem schlechtem Deutsch geschriebene Postkarte wurde von einem der schönsten Orte der Welt zum anderen geschickt: von unter dem Schloss von Buda – nur ein paar Meter von der scharfen Kurve, wo im Jahre 1937 Wilhelm Miklas und Miklós Horthy zum Schloss aufschwenkten – zu unter dem Palazzo Vecchio von Florenz, nur zwei Straßen vom Ponte Vecchio und die Biblioteca Nazionale, aus dessen Fenster man einen jede Forschung ernsthaft behindernden Blick über den Arno genießt.


Im Vordergrund der in den letzten Monaten des vergangenen – oder in den ersten Monaten des neuen? – Jahrhunderts geschickten Postkarte kann man noch den majestätischen Schlossbasar erblicken, der nach der Zerstörung im Krieg gerade in diesen Tagen wieder aufgebaut wird. Und im Hintergrund die romantischen Gassen des Montmartres von Budapest, der Tabán, die ohne einer Spur während der Abbauten der 1930er Jahre verschwinden werden. Ihre zauberhafte Welt wird auf solchen Seiten rekonstruiert, wie Tabán Fotogalerie, Tabán Anno, Falanszter, die interaktive Karte des alten Tabáns, die Jubileumszusammenstellung von Cink.hu, und natürlich die Schriften der hervorragenden Stadthistorikerin Noémi Saly und die vor kurzem von ihr organisierte große Tabán-Ausstellung.


Neben dieser Postkarte finde ich auch ein weiteres Multikulti-Brief auf dem Berliner Flohmarkt. Der mit französischem Briefkopf versehene und auf Deutsch angesprochene Umschlag wurde 1943 mit griechischen Briefmarken und mit dem Hakenkreuz-Poststempel der deutschen Besatzungsbehörden, aber mit einer Militärzensur-Etikette in Italienisch nach Berlin geschickt. Dies aber lasse ich zum Genuß von anderen Spezialisten.

Landschaft ohne Menschen

Typische polnische Landschaft in Galizien im Sommer 1936.

Diese Ausschnitte sind aus dem in polnisch-amerikanischer Kooproduktion gemachten jiddischsprachigen Film Jidl mit’n fidl („Ein Jüdlein mit einer Violine“, 1936, hier anzusehen). Sie stellen die Hauptdarsteller Molly Picon, Simcha Fostel, Leon Liebgold, Max Bozyk dar. Der Film wurde von Joseph Green gerichtet.


Jidl mit’n fidl: A Heimisher Sherl. Alicia Svigals.



Die Vegetation ist dieselbe achtzig Jahre später, im August 2014, am gleichen Ort, im Vernichtungslager Belżec, Galizien.


Überblendung: Fibonacci




Dieses Foto der Sitzung vom 8. April des ukrainischen Parlaments mit der Analyse der Proportionen kann dem Betrachter drei Dinge suggerieren.

Einem Außerirdischen, dass die Irdischen führen alle ihre Handlungen, auch die leidenschaftlichsten, nach komplizierten rituellen Regeln aus, wie ein großer Tanz.

Einem Irdischen, dass das Gesetz des goldenen Schnitts bestimmt alles.

Einem zynischen Irdischen, dass das Muster des goldenen Schnitts mit ein bisschen Mühe auf alles bezogen werden kann.

Ein Fotograf weiß, dass bis er zum Fotografieren im Parlament kommt, werden Tausende von Bildern mit dem goldenen Schnitt durch ihn gesehen, gelobt und gemacht sein, so dass er durch bloße Gewohnheit solche schießt, dann er wählt unter den Dutzenden von Aufnahmen zur Veröffentlichung diejenige aus, die zu jene am nächsten sind, und wenn nötig, auch diese werden geschnitten (wie hier, wo durch das Abschneiden der rechten Hand wird eine perfekte pyramidale Komposition für einer perfekte goldene Schnitt geopfert).

Und ein Kunsthistoriker weiß, dass er den goldenen Schnitt als universelles Gesetz nur auf solchen Bildern analysieren darf, wo er ausgezeigt werden kann.

Krakau



Sayat Nova: Dun en glkhen (Vorbitte des Königs vor seiner Verbannung), Gaguik Mouradian, Solo Kamanche, 3’40”

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