Stadtvögel


Schon die im Tageslicht auf die Straße starrende Eule im Torweg des Platteises/Platýz ist auffällig genug, aber drei Häuser entfernt, an der Neue Allee/Národní třída 37 wird es unbestreitbar: die Torwege von Prag wurden von den sich an die städtische Lebensweise assimilierenden Vögeln überfallen.



Die Taube, die ihr Nest auf der Streckkabel des Fahrdrahts, unmittelbar hinter die Taube weghaltenden Dörner baute, versucht so zu tun, als ob sie nur ein weiterer von den vielen Gags von Prag wäre. Nach einigen Minuten des Fotografierens blickt sie aber nervös von Seite zu Seite. Ich konnte mir nicht verzeihen, eine so vielversprechende evolutionäre Kette zu brechen, so setze ich meinen Weg fort.




Hrabal 100

Prag, Kleinseite, heute Morgen


„…Der Text wurde auf einer deutschen Schreibmaschine der Marke Perkeo geschrieben, auf dieser Atommaschine, die Egon Bondy, den Dichter mit einer immensen Faszination erfüllte. Ich kaufte die Maschine von meinem Klassenkameraden Bureš, der ein Geschäft in Nymburk, auf der Großen Rampe hatte. Ich verliebte mich in sie auf den ersten Blick, aber ich hatte keine dreitausend Kronen in alten Banknoten, so kam ich oft zurück, um an sie zu ergötzen, bis ich sie kaufen konnte. Sie war eine kleine Maschine von 1905, die Walze konnte nach unten gekippt werden, und ich trug die geschlossene Maschine auf zwei Riemen, wie man die Schulbücher unter der Monarchie trug. Ich war von dieser Maschine begeistert, ich schrieb auf ihr nur zum Vergnügen. Die Akzente fehlten, so dass jeder Schreibmaschinenseite ein Lächeln und ein Lachen verursachte. Ich habe gelernt so brilliant, auf ihr zu schreiben, dass ich in der Lage war, auch in der Nacht zu schreiben, wie die blinde Pianisten spielen auf ihr Instrument.“
Bohumil Hrabal: Der Verrat der Spiegel


Der hunderte Geburtstag dämmert mit Nieselregen, aber am Morgen kommt die Sonne schon zufällig aus. Ich kehre zurück zu Libeň, so wie vor zwanzig Jahren. An der Ecke des Hauses, das ich damals suchte, in der Stelle des Schrotthaufens steht jetzt eine kleine Kolonne, und die Wandmalereien an den Außenwänden der auf dem Gelände des Hauses gebauten U-Bahn-Station Palmovka wurden schon von vielen Autoren beschrieben.

„Grundstein des Bohumil Hrabal Zentrums“. Im Hintergrund die geschlossene Synagoge von Libeň.


„,Du kommen nach Libeň für das? Für Herr Hrabal?ʻ Er schluckt kratzig, in seinem ausgetrockneten Mund der Speichel ist milchiges Gel. ,Ich konnte Hernn Hrabal. Er liebte Bier. Er bezahlte eine Menge auch für mich.ʻ Jetzt ist es schon sicher, dass er Geld will. ,Du sprechen Tschechisch?ʻ Nein, nicke ich wiederwillig, ich würde eher los von ihm, ich krame in meiner Tasche, aber ich habe kein Kleingeld, nur Banknoten, und wir sind auch arme Leute. ,So wissen du nicht, was hier geschrieben?ʻ Nein, wirklich nicht. Tady stojím, čelo mám korunované deseti vráskami, tady stojím jako starý bernardýn a dívám se do veliké dálky, až do svého dĕtství… Er beginnt eifrig zu übersetzen: ,Ich stehe hier… Krone der zehn Falten auf meiner Stirnʻ, er schwitzt von der Anstrengung, ,Ich stehe hier, ich sehe aus wie… ein Bernhard… Rettungshund… ja, ja, ein Bernhardiner… Ich sehe weit, sehr weit, bis als ich ein Kind war.ʻ Ich freue mich, den Text zu erkennen. Ich greife in meinen Rücksack für ein lauwarmes Soproni-Bier, vielleicht wird ich damit von ihm loswerden, als ich die Tränen auf seinem Gesicht erblicke. Wir blicken uns mit Anna einander an. Wir schämen uns. ,Danke, Ungarn, das ihr gekommen seid. Um Hernn Hrabal, meinen Freund zu sehen.ʻ Ich füle mich verpflichtet, seine ausgestreckte schmutzige Hand zu schütteln.“
Mátyás Falvai: „hrabal_wall.jpg” Új Könyvpiac, September 2012

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Heute, am Geburtstag gibt es keine Veranstaltung in Libeň, nur die Schulen feiern den „Tag von Hrabal“. Am Montag wird es ein Gedenkabend im alternativen Theater von Libeň, und eine Ausstellung mit dem Titel ”Scharf beobachteter Hrabal“ öffnet sich, ich werde über beide berichten. Als private Erinnerung sitze ich ins ”U Horkých Biersanatorium“, das letzte überlebende Haus des jüdischen Viertels von Libeň, der Endstation von Hrabals berühmten Grand Slalom. Ich frage die erfahrene Kellnerin, welcher war der Stammplatz von Hrabal, um diesen Post von dort zu veröffentlichen.


Überblendung: Die Schlange

Luciano Ramo: Achtung, die deutsche Schlange ist gefangen worden! Jetzt müssen wir ihre Zähne reißen, Brescia, F.lli Geroldi 1916

Otto von Kursell: Nieder mit dem Bolschewismus! Bolschewismus bringt Krieg und Verderben, Hunger und Tod, 1919

Tod der Lüge, um 1932-1933


Sergej Igumnov: Zerstören wir die Spione und Diversanten, die trockist-bucharinistischen Agenten des Faschismus, 1937.
(Die verwirrende Bildunterschrift spiegelt die Verwirrung der offiziellen Ideologie. Obwohl
die Schlange ein Nazi-Monokel trägt, sind die Deutschen in dieser Zeit potentielle, und
später tatsächliche Verbündete der Sowjetunion. Deshalb sind andere Feinde
erwähnt: Trockisten, Bucharinisten, oder sogar Faschisten, wie Nazis
in der post-sowjetischen Welt immer noch bezeichnet sind.)

Jean Carlu (1900-1997): Welttag des Friedens, 2 Agust 1936

John Heartfield (geboren Helmut Herzfeld, Bertold Brechts Bühnendesigner): Fordert: Verbot der Atomwaffen, 1955

Wir werden Trunksucht überwinden! Sowjetisches Anti-Alkohol-Plakat, 1960er Jahre

Spaziergänge im jüdischen Viertel


Ich kam nur für einen Kaffee ins Kazimír Haus in der Budapester Kazinczy Straße, aber als ich nach oben komme, ich finde eine fröhliche internationale Gesellschaft um den langen Tisch mit Wein, Entenleberpaste und Gitarrenmusik. „Was ist denn hier los?“ frage ich überrascht Andrea. „Wir haben gerade unsere erste Tour durch das jüdische Viertel beendet, und wie du siehst, es war ein voller Erfolg. Die nächste beginnt bald. Komm mit, wenn du Zeit hast.“

Am letzten Sonntag begann der Ungarisch-Jüdische Kulturverein seine Stadtrundspaziergänge im jüdischen Viertel, wie der 7. Bezirk von Budapest traditionell genannt wird. An den folgenden zwei Sonntagen, den 30. März und 6. April werden sie die Orte und die Traditionen des ehemaligen jüdischen Lebens vor allem für „Außenseiter“ präsentieren. Dennoch haben sie auch etwas den Kennern des Viertels zu zeigen. Wir haben auch zwei alte, in Innenhöfen versteckte Synagogen besucht, wo auch ich noch nie gewesen bin. Diejenige am Dessewffy Straße 23 wurde von den jüdischen Packträgern des nahe gelegenen Westbahnhofs aus einem Pferdestall umgewandelt – vielleicht ist diese die einzige Synagoge, wo die beiden Funktionen einander nicht in der umgekehrten Reihe folgten. Und diejenige am Vasvári Pál Straße 5 wurde 1885 von Sándor Fellner, dem späteren renommierten Architekt von Budapest, für die zur Stärkung dr Orthodoxie gegründeten Talmud-Tora-Gesellschaft (Schas Chevra) entworfen.

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Der Ungarisch-Jüdische Kulturverein wird die beiden Spaziergänge am nächsten zwei Sonntagen wiederholen. Am 13:00 bieten sie eine allgemeine Darstellung des Viertels, und am 16:00 werden sie einige versteckte Synagogen besuchen. Am 30. März wird die große Tour auf Englisch und der Synagogenbesuch auf Ungarisch, und am 6. April umgekehrt. Wenn Sie in Budapest sind, kommen Sie mit! (Anmeldung per E-Mail: mazsike@gmail.com.)

Duftende Blumen


In der Ausstellung Nebelhafte Berge, duftende Blumen – Traditionelle chinesische Tuschmalerei im 19. und 20. Jahrhundert im Kogart-Haus in Budapest, fast hundert Rollbilder und Kalligraphien sind zu sehen bis zum 30. März aus dem Drei-Schluchten-Museum von Chongqing. Fast alle Gemälde sind aus der späten Qing-Ära, akademische Arbeiten mit konservativem Geschmack, die den großen klassischen Modellen sorgfältig nachfolgen. Vielleicht sind nur die drei Bilder von Liu Xiling (刘锡玲, 1848-1923) wirklich originell und spannend: ihre gebrochene Pinselführung und abstrakte Formen lassen bereits vorausahnen die Expressivität der zeitgenössischen chinesischen Tuschmalerei, sowie ihre ironische Beziehung zum klassischen Kanon.

Diese Darstellung ist eine andere Arbeit von Liu Xiling; seine ausgestellten Werke erscheinen nicht im Katalog.

Die Natur entschädigt uns jedoch für die zurückgehaltene Intensität der Bilder. Die vier Magnolienbäume in voller Blüte an der Straßenfront des Kogart-Hauses zeigen mit explosivem Kraft, was die Meister am Ende der Kaiserzeit aus den Bildern eines früheren, für glücklicher gehaltenen Zeitalters zu sublimieren versuchten. Die Besucher bleiben stehen im Garten, wie auch die Passanten vor dem Zaun. Sie fotografieren sich glückselig im Vordergrund des Meeres von Blumen.


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Ein neuer Tag in der Krim

„Wie beginnt der neue Tag in der Krim?“


„Die Sonne, wie der Mensch, wacht widerwillig auf. Mit einem offenen Auge sieht sie sich um. Dann schließt sie es wieder ein für ein paar Moment, bis sie endlich beschließt, sich auszuschlüpfen…“


„…aus dem Meer, wie von unter der Decke, die sie zurückhält.“


„Der Moment der Trennung vom Wasser. Ich liebe es, diesen Moment zu fotografieren, wenn es scheint, als ob die Sonne von einer anderen Sonne gefolgt wäre… aber nein, es ist nur ein paar Sekunden langes optisches Spiel.“


„Aus dem Meer hervorgegangen, die Sonne steigt langsam über das immer lautere Schreie der Möwen. Die magische Farben langsam verschwinden, um erst in der Dämmerung wieder zurückzukehren.
Ein neuer, ganz normaler Tag beginnt in der Krim.”


Fotos und Text von heute morgen von Sergej Anaschkevitsch

Überblendung: Jäger im Schnee

Pieter Brueghel der Ältere: Die Jäger im Schnee, 1565