Ich habe die Kamera im Sommer 2014 in einem Geschäft in Tiflis gekauft. Ich habe sie zum Arbeitswerkzeug bestimmt. Ich kaufte eine Spiegelreflexkamera. Früher habe ich nur kleine Kompaktkameras benutzt.
In kurzer Zeit wurde das Arbeitswerkzeug zum Teil meiner Identität. Seine Verwendung radikal veränderte meine Beziehung zur Forschung. Die Kamera zwingt mich, durch ihrer Linse die Bedeutung der Orten und Menschen neu zu interpretieren. Der Bildausschnitt und die daraus folgenden Bilder sind nicht das Ergebnis eines zufälligen Klicks. Im Gegenteil, ich möchte einen bewussten visuellen Bericht über den Gegenstand meiner Forschung geben. Das Bild ist nicht bloß der Anblick auf den von mir unabhängig existierenden Raum und Menschen, sondern der Abdruck eines innigen und ständigen Dialogs zwischen uns, wo Ästhetik und Praxis in einem unwiederholbaren Moment übergehen.
„Was die Fotografie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können. Die Fotografie ist das absolute Besondere, die unbeschränkte Kontingenz, sie ist das Bestimmte (eine bestimmte Fotografie nicht die Fotografie), kurz, das Glück, der Zufall, das Zusammentreffen, das Wirkliche in seinem unerschöpflichen Ausdruck.“ (R. Barthes, Camera Lucida 1)
Die Flexibilität und die Funktionalität des Werkzeugs ermöglicht es mir, die Umwelt und die Leute um mich herum ständig neu zu interpretieren. Schnell entdeckte ich, dass selbst wenn ich Fotos über den gleichen Platz mache, passen sich meine Bilder nicht nur zu den momentanen Bedürfnissen der Forschung und den beabsichtigten Beschreibungen, sondern, als das Fotografieren bereits zu einem Teil von mir geworden ist, auch zu meinen momentanen Stimmungen und Visionen. Es ist auch sehr interessant, die Kamera in die Hände meiner Informanten zu geben, damit sie ihre Aufnahmen machen. Diese Bilder sind „von Innen gesehene“ Ansichten der Wirklichkeit, ihre noch persönlicher Vorstellungen.
Ich laufte auf den Treppen des Hochhauses ab. Ich wollte auf der Hauptstraße durchgehen, die den Zahesi-Viertel halbiert, und zum Jvari-Kloster führt. Ich war von Begeisterung erfüllt über das Gerät in meiner Hand, über die Idee, das ich die Wirklichkeit um mich herum schließlich – und auch für mich selbst – erzählen kann.
Ich bin zu einem bisher unbekannten Teil des Viertels gelangen. Einige Frauen unterhalteten sich selbstvergessen, die schwarzen Konturen ihrer Kleidung zeichneten sich scharf gegen den grauen Wohnblocke ab. Ich fragte sie über den Weg. Sie starrten auf die Kamera, einer von ihnen deutete zerstreut in irgendwelche Richtung. Ich folgte in jener Richtung. Bald fand ich ein kleines, von der Vegetation halb überwuchertes Gebäude. Am glatten Wand, kräftige Figure von Tänzern und Musikern, versteift nur durch die Unbeweglichkeit des grauen Materials, das nicht zu den Träumen passt. Nach den Blockhäusern, schließlich etwas, um mein Gerät zu testen. Es war nicht einfach. Ich fühlte dass ihc noch nicht empfindlich genug war. Nach ein paar Klicks verließ ich den Ort mit verknappten Selbstvertrauen.
Aber die helle Sonne versprach alles gut. Ich kümmerte weniger mit dem neuen Spielzeug, und mehr damit, dass ich ein geeignetes Objekt finde, als ob Robert Capa nach Tiflis zurückkehrte. Üppige Vegetation ringsum, ein paar verfallene Betonbauten, sonst nichst. Ein paar kleine Jungen kamen auf mich auf der Straße, sie lachten, entweder über einander, oder über mich. Ich habe sie nicht gefragt. Ich musste mein Thema selbst finden. Nach einem langen Spaziergang scheinte der Anblick eines blauen Flecks durch die Zweige. Vielleicht ein alter Brunnen, oder ein Spielplatz. Ich habe es nie kennengelernt. Fische, Wellen, Algen. Die winzigen Steine des Mosaiks wurden sorgfältig vom Arbeiter oder Künstler angeordnet, der persönlich von Breschnew, oder vielleicht nur von einem lokalen Funktionär beauftragt wurde, eine gewisse Lebendigkeit in die Wohnsiedlung zu bringen. Das Meer in Zahesi. Kitano in Zahesi.
Kelaptari: Sacekvao. Vom Album Georgian Dancing Melodies (2012).