Zeitschleife

Alter Mann (vielleicht Onkel Soma) spielt auf Drehpiano, Tahi Straße, Bezirk Angyalföld, Budapest, um 1963

Unser Post ist auf einmal hier und auf dem Heimatkunde-Blog „Plant a Tree” des Bezirkes Angyalföld von Budapest veröffentlicht.
der Leierkastenmann, der Eismann, der Drahtbinder,
Onkel Gyula, der lahme Althändler…

die wachsweiche kindliche Wahrnehmung, die solche kleine Momente hält, worüber der Erwachsene so leicht hingeht…

Wege der Leierkastenmänner in Angyalföld (die im Post erwähnten Plätze, auf die Karte des Bezirkes projiziert)
Obwohl die Pallas Große Enzyklopädie an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts den Leierkastenmann etwas abschätzig anführt, wie einen, der mit seiner Beschwerung die Bevölkerung stört, und der große Dichter Dezső Kosztolányi im Jahre 1927 über das Verschwinden der anachronistischen Leierkastenmänner schrieb, noch in den frühen sechziger Jahren eine Reihe von Menschen wanderten entlang der Tahi Straße mit einer solchen, auf zweirädrigen Karren montierten Musikdose. Die ehemaligen Kinder, heute 60 und älter, erinnern sich immer noch glücklich an die Maschinen-Musiker der sechziger Jahre.

Für viele Kinder in Angyalföld war die Musik des Leierkastenmannes zum Sonntagsmittagessen verknüpft. Andere halfen für den Preis eines Eises, den Karren zu schieben, oder die aus den Innenhoffenstern geworfenen, in Zeitungspapier eingewickelten 50-Filler-Münzen zusammenzuklauben. Sie erinnern sich noch auch an die Lochkarten, und sie sagen, dass der Leierkastenmann hat sie nicht gekauft, aber er selbst gemacht.

Das ist aber ein interessantes Element der Geschichte, denn, wie weit wir es wissen, verwendet diese Art von Drehpiano keine Lochkarten.

Straßenmusik-Maschinen haben zwei Haupttypen: das Drehpiano, das wir auf dem Bild sehen, und die Drehorgel. Der letztere Name wird oft für beide Arten verwendet. Doch im Drehpiano werden die die Klänge hervorrufende Tasten durch einen Zylinder betrieben, worauf die Melodie durch Nägel codiert ist, ähnlich wie bei den in den Spielladen verfügbaren kleinen Musikdosen. Natürlich kann der Zylinder des Drehpianos bis zu mal größer sein, da die Länge des Musikstücks, das abgespielt werden kann, hängt vom Durchmesser ab. Im Fall des Drehpianos betätigt der Zylinder eine Klavierstruktur.

Dieser plebejische Musik-Maschine hat auch einen aristokratischen Bruder, das Pianola. Auf den ersten Blick ist es ein traditionelles Instrument, mit Klaviatur und Pedale. Dies wirklich benützt auf Lochkarten gespeicherte Codes, das eine viel feiner differenzierte Wiedergabe ermöglicht. Das Pianola war auch eine der ersten Techniken des Musikaufnahmens, die die tatsächliche Aufführung eines Pianisten aufzeichnete, damit das Ergebnis kein Maschine-Playback einer sterilen Melodie, sondern eine echte künstlerische Interpretation war. Solche Aufnahmen wurden unter anderem von Scott Joplin, Béla Bartók, oder dem jungen Artur Rubinstein gemacht.

Es ist daher ein Rätsel, wie die Lochkarten in diese Kindheitserinnerungen einsickerten. Vielleicht gab es ein weiteres Instrument in der Nachbarschaft, das auf diesem Prinzip funktionierte, aber es ist auch möglich, dass der alte Mann einfach die jungen Mädchen austricksen wollte. Wer weißt das.

Der Mann auf dem Foto könnte Onkel Soma aus dem nördlichen Bezirk Újpest sein, der in der Regel von der Polgár Kneipe in der Erzsébet Straße spielte, sagt einer der Informanten. Andere fügen dazu, dass es auch in Petneházy Straße ein Leierkastenmann lebte, der hat oft in der Gyöngyösi Straße oder im Armenviertel „Tripolisz” gespielt.

Wenn wir sorgfältig das folgende Foto aus der 1930er Jahren prüfen, taucht es auf, dass wir hier vielleicht dieselbe – nur einige Jahrzehnte jüngere – Maschine sehen. Vielleicht is auch der Mann in den beiden Bildern derselbe?


 
Die optimale Nutzung der vom Werkelmann (wie er im Wienerdeutsch genannt wurde) angebotenen Chances ist gezeigt in diesem fröhlicen Bild von Josef Engelhardt aus 1890.

Und wenn es das gleiche Instrument ist, dann ist es auch im folgenden Bild, aus den dreißiger Jahren? Die schlechte Qualität und die verschiedene Perspektive machen den Vergleich schwer. Die gedrehten Füße sind vielleicht von einem eingerüsteten Unterstützung verdeckt, aber ansonsten erscheinen die Instrumente ähnlich. Allerdings war der Beruf des Leierkastenmanns typischerweise ein Ein-Mann-Unternehmen, und der Mann mit dem Hut und derjenige mit der Arbeiterskappe sind vielleicht nicht identisch. Wer weiß es sicher heute?

Leierkastenmann in der dreißiger Jahren. Foto von Lajos Szabó, in: Fortélyos félelem igazgat, Móra, 1974. Nach unseren Informanten wurde es aus der benachbarten Wohnung an Attila Straße 150 aufgenommen.

Aber es gab auch andere ambulante Darsteller im Bezirk entlang der Achse der Váci Straße. Im Wohnviertel Tripolisz man erinnert sich sogar an einen singenden Bettler, der so alt war, dass seine Stimme die Fenster nicht erreichte. Dennoch erhielt er auch seine Gebühr. Und neben den Leierkastenmännern – die oft Kriegsbeschädigte oder aus anderen Gründen einer leichteren Arbeit bedürftigte waren – gab es auch eine wichtige Konkurrenz im Hofbegang: die Zigeuner. Sie waren vor allem junge Menschen, die das tägliche Übung mit dem Brotverdienen verbanden, und mit ihren Geigen herumgehend populäre Schlager oder ungarische Lieder spielten. Angyalföld war die Wiege von vielen berühmten Zigeunermusikern, wie wir es in einem späteren Post erzählen werden.

Es gab auch zwei andere alte Männer, Onkel Pista und sein Schwäger oder Bruder… vielleicht es sind sie auf dem Fotos von Iván Vydareny aus Angyalföld von der sechziger Jahren, als sie ihre Musik-Maschine in der Visegrádi und Gogol Straße schieben.


Und das Pianola, das unsere Tour in Angyalföld begleitete, taucht unerwartet wieder auf ein letztes Mal, zu verabschieden: es war in 1969 zur Verfilmung des berühmten Die Jungen von der Paulstraße von Ferenc Molnár gekauft.


“Exactly at quarter of one, after repeated futile experiments, the tense anticipation was rewarded. Into the colorless flame of a Bunsen burner upon the classroom desk there suddenly burst a flash of bright emerald; the professor’s efforts to demonstrate the fact that the compound, whereof the professor wanted to show that paints the flame green, indeed paints the flame green; say, at quarter of one, in that triumphant minute, a barrel piano resounded in a neighboring courtyard. Whereupon all earnestness and attention instantly fled. The windows were wide open, welcoming the warmth of a March day, while the wings of fresh Spring breezes wafted music into the room. It was a rollicking Magyar melody which issued in march tempo from the barrel piano. It was so utterly hilarious an air, so Viennese in spirit, that the entire class felt tempted to smile; indeed, many among those present did not restrain this urge.”
Ferenc Molnár: The Paul Street Boys, 1.

Ich kennte solche Straßenmusikanten nur aus einem Radiomärchen, aber wir liebten ihn sehr auch dort. (Aus der fast 50-minütigen Geschichte spielt der Leierkastenmann Zakariás nur einige Minuten am Anfang und am Ende.)


Jede Maus liebt Käse. Radiospiel, 1980.
Zakariás: Károly Kovács – Papagei: Ferenc Háray – Tante Lidi: Józsa Hacser – Onkel Márton: László Csákányi – Soma: Endre Harkányi – Mama Szeréna: Éva Schubert – Papa Albin: Samu Balázs – Fruzsina: Hédi Váradi – Großer Katzenmagier: Gyula Bodrogi – Pepita Mäuser: Ildikó Meixner, Péter Csepeli – Im Zusammenarbeit mit dem Ensemble des Symphonieorchesters des Ungarischen Rundfunks – Musik und Leitung: Lászó Gulyás – Geschrieben und arrangiert von Gyula Urbán
Fogd meg a vízben a csillagot!
Hasztalan, úgysem tudod!
Idelent hiába vallatod,
fönt van a fényes titok.

Csillagba zárták a sorsodat,
csillag a vízben ragyog
Tükrödből nem tudhatsz meg sokat,
fönt van a fényes titok.
Fange die Sterne auf dem Wasser!
Nutzlos, das kannst du nicht
Vergeblich verhörst du sie hier:
Dort oben ist das helle Geheimnis.

Dein Schicksal wurde in den Sternen
eingeschlossen, die auf dem Wasser glänzen:
Dein Spiegel wird nicht viel erzählen:
Dort oben ists das helle Geheimnis.

Update: Dank dem Aufruf im Frühjahr 2013 der Kreisbibliothek, zwei neue Fotos von 1965 wurden aufgetaucht. Für Vollständigkeit füge ich sie hier ein.



Überblendung: Der Leierkastenmann

Willy Römer, der Fotograf des Alltags in Berlin zwischen 1905 und 1935: Leierkastenmann mit seinem Äffchen spielt zur Belustigung der Kinder im Hof, 1925

Robert Capa: Leierkastenmann in Berlin, August 1945

Leierkastenmann spielt im Hinterhof der Berliner Fasanenstraße 13, 1965

Gerhard Thieme (1928-), der offizielle Gag-Bildhauer der DDR: Denkmal für den
Leierkastenmann,
1987. Im zuerst zerstörten, und dann als ein sozialistisches
Disneyland neu erstellen Berliner Nikoklaiviertel, worüber wir
noch mehr schreiben werden

Franz Schubert, Die Winterreise Op. 89. XXIV: Der Leiermann. Dietrich Fischer Dieskau

Für weitere Leierkastenmänner und Affen in der Vorkriegs-Warschau und Lemberg, in der verschwundenen Bukarest und zerbombten Budapest, in Amerika und Georgien, als auch im vor- und nachrevolutionären Russland, paddeln sie zurück auf Río Wang.

Die große Reise


„C’est de Paris la ville incomparable… Aus Paris, der unvergleichlichen Stadt läuft die große Reise ab, die durch alle großen Städte Europas fährt.“

Der mitteleuropäische Spieler guckt natürlich sofort an die Mitte der Karte… wo sich die Dinge furchtbar verwickelten. Ungarn scheint mit einem Vorlegemesser geformt worden sein, sein nördlicher Nachbar heißt Österreich statt Tschechoslowakei, während sein südlicher Nachbar ein großes unbenanntes Land ist, mit einem kleinen Serbien und Montenegro in der unteren Ecke.


Es braucht Zeit zu realisieren, dass dieses großes unbenanntes Land mit den slawonischen Pferden, dem bosnischen Wein, den Siebenbürger Zigeunermusikern, den österreichischen und galizischen Kiefern und dem Karpatenwolf ein und dasselbe Reich ist.

Die ursprünglichen dünnen Grenzen und farbigen Länder der von Léon Saussine, dem führenden Pariser Spielerzeuger an der Wende des Jahrhunderts veröffentlichen Karte vertreten Europa vor dem Ersten Weltkrieg, etwa zwischen 1908 (Bosnien ist bereits Teil von Österreich) und 1913 (die Sandžak ist noch Teil der Türkei). Jedoch scheint es so, dass das Spiel sich nicht ganz verkauft hat, offenbar weil die Spieler auf massive, staatlich finanzierte echte große Reisen in der ganzen Europa fuhren. Und als die friedliche Zeit der Brettspiele wiederkam, die Franzosen, wie in der Realität, hatten die Karte neu zu zeichnen.

„Wenn der Spieler eine Hauptstadt betretet, muss er dort bleiben, biss alle anderen Spieler noch einmal wieder werfen, denn man zum Besuch einer solchen wichtigen Stadt Zeit widmen muss.“

Die doppelte Anzahl von Hauptstädten wahrnehmbar verlangsamt die Fortschritte auf der Karte, ebenso wie in der Realität.

„Der Spieler, der es nicht sofort sagen kann, zu welchem Land die betreffende Hauptstadt gehört, wird drei Punkte verlieren. Zum Beispiel, bei dem Betreten Punkt Nummer 3: London ist die Hauptstadt von den Britischen Inseln, und so weiter, in allen Hauptstädten.“

Dass heißt, die Einwohner von Paris, der unvergleichlichen Stadt gaben sich eine schwere Lektion mit der Umgestaltung Europas und der Vermehrung der osteuropäischen Kleinstaaten. Kein Wunder, wenn in jener glücklicheren westlichen Hälfte des Kontinents, die die bunten dicken neuen Grenzen so auffällig entbehrt, Dialoge dieser Art sogar zehn Jahre später bemerkt wurden:

„Und wo leben diejenige Ungarn?
In Ungarn. Zwischen Österreich, Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien.
Aber ich bitte Sie!… Diese Länder wurden von Shakespeare erfunden.“

Antal Szerb: The Pendragon Legend, 1934

„Der Weg kann nach Wunsch mit dem Fahrrad oder Automobil zurückgelegt werden.“

Der mitteleuropäische Spieler denkt mit Wehmut an die glücklichere westliche Hälfte des Kontinents, wo nach der großen Katastrophe musste man nicht alles von Null anfangen, Heimat oder Sprache wechseln, jahrelang in Waggonen wohnen, sondern nahm man erst die Vorkriegs-Brettspiele heraus, malte die neuen Grenzen auf, und dann ging alles auf seiner eigenen Weise, mit dem Fahrrad oder Automobil.

„Der Gewinner ist derjeniger, wer den großen Kreis zurücklegend zunächtst in Paris wiederkehrt. Der Gewinner bekommt alles.“


Don vs. Sinai

„Die Tragödie von Don war die größte Niederlage in der ungarischen Militärgeschichte. Seit den Kreuzzügen haben ungarische Soldaten nie so weit weg von ihrer Heimat wie damals gekämpft.” (Verteidigungsminister Csaba Hende, Ungarische Nachrichtenagentur, 14 Januar 2013 Montag, 13:15)”

Die Soldaten der zwei k.u.k. Gebirgshaubitzbatterien von Kaschau (Kassa/Košice) und Budapest baden im Mittelmeer bei el-Arish auf der Sinai-Halbinsel in Sommer 1916

Fern sei es von uns, die gebührende Aufmerksamkeit von der Katastrophe von Don und von ihrem 70. Jahrestag abzulenken. Aber wenn schon eine solche Ungenauigkeit in den Bericht der UNA schlüpfte, können wir sie ohne wenigstens eine kurze Korrektur nicht lassen.

Der Verteidigungsminister sollte sich nicht bescheiden. Selbst wenn mit dem Gastspiel am Don verglichen in einem vernachlässigbaren Größe und Bedeutung, aber fast rein ethnische ungarische k.u.k. militärische Einheiten kämpften auch zwischen 1916 und 1918 in Asien – im Osmanischen Reich, in dem Gebiet des heutigen Syrien, Libanon, Jordanien und Israel –, und sogar im nach den heutigen politischen Grenzen betrachteten Afrika, auf der Sinai-Halbinsel und an der Suezkanal. Unsere Artilleriebatterien von Kaschau und Budapest, etwa ein tausend Menschen, dienten dem Kaiser und König im gleichen Heiligen Land, wo, wie die UNA es behauptet, tatsächlich keine Ungarn seit den Kreuzzügen gekämpft hatten – bis zum Sommer 1916.

Einmarsch ungarischer Soldaten in Jerusalem am 9. Mai 1916.

Meine Burg




Vater und Sohn

Buenos Aires, Straßenfotograf, um 1930

Familienalbum:
Alba, 1867
Hong Kong, 1897
Marseille, 1900
Paris, 1904
Valenciennes, 1918
Buenos Aires, 1930
Weit entfernt von den berühmten Studios, weit von den Familienfotografern und ihr Akademismus – ein gestohlenes Bild von einem jener Wanderfotografen, die auf der Ecke der Straße stehend, unerwartet die Passanten abknipsen.
Die Straße ist in Buenos Aires um 1930. Die Passanten sind Vater und Sohn. Sie verstehen sich nicht.
Der Sohn ist wieder in Argentinien nach einer langen Ausbildung in der Schweiz. Der Vater erwartet viel von dieser Luxus-Ausbildung: immerhin sollte ihm der Sohn in der Wirtschaft folgen. In dieser Krisenzeit ist es gut, auf einen Erben auf dieser Höhe zu zahlen: Polyglott, beherrscht die Komplexität des Finanzwesens, Kenner des Welthandels, was weiß ich…

Der Vater stoppt, es wird er, der das Bild des Straßenfotografs kauft.
Der Vater ist so stolz auf seinen Sohn, ein Sohn so groß, so intelligent, so sportlich, so mondän.
Der Sohn ist weit über dieser Straßenfolklore. Es ist sicherlich nicht er derjenige, der zwei Pfennige für dieser Art von Müll ausgeben würde. Er fühlt sich weit über dieser Stadt, weit über diesem Vater, den er kaum kennt, ein Vater so klein, so schlecht gekleidet, so provinziell.
Und er träumt von der Rückkehr nach Europa.

Der Vater ist stolz, aber vorsichtig.
Er wird ihm nicht sofort die Firma übergeben, die er gründete und zur Blüte erhob, er wird ihm nur eine Filiale anvertrauen. Die europäische Filiale, das wird ihn glücklich machen, den Junge.
Er hat sie ihm anvertraut – und ein paar Monate später hat die europäische Filiale Bankrott gemacht. Ein patenter Kerl, der Junge.

Vater – und Vater

Alba, Piemont, 1867

Familienalbum:
Alba, 1867
Hong Kong, 1897
Marseille, 1900
Paris, 1904
Valenciennes, 1918
Buenos Aires, 1930
Er war der kleine Junge in der Mitte des Bildes. Heute, sein abenteuerliches Leben eingemottet, steckt er Fotos in sein Album, schreibt Bildunterschriften, und baut eine Geschichte seines Lebens für die Verwendung seiner Töchter – eine Geschichte, die sich ganz auf ihn selbst konzentriert, und weitgehend entfleckt ist von allem, das möglicherweise nicht seiner Herrlichkeit dienen könnte.

Zuallererst – wer ist der Vater hier? Nein, nicht der Alte – ich bin der! Unter das zwei Jahre alte Kind, das jüngste von den um den Patriarchen angesammelten neun Kindern (neun lebenden Kindern, natürlich, wir zählen die Toten nicht) schrieb er „Papito”. Natürlich, er ist der Vater der zwei Mädchen, denjenigen er das Album zusammensetzt – der „caro papito”, als sie in ihren köstlichen Postkarten aus ihrem Internat in Turin schreiben. Aber er ist auch das rebellische Kind, das zu acht Jahren in Genua flieht, um als Schiffsjunge nach den Fernen Osten abzusegeln, so weit wie möglich von dieser ganzen Familie. Von den Carabinieri nach Hause gebracht, mußte er seinem Vater, seiner Mutter, seinen Brüder, Schwestern, Schwäger und Schwägerinnen, und sogar seinen älteren Neffen ins Angesicht sehen.

‘Scuse me,” said the Elephant’s Child most politely, “But my father has spanked me, my mother has spanked me, not to mention my tall aunt, the Ostrich, and my tall uncle, the Giraffe, who can kick ever so hard, as well as my broad aunt, the Hippopotamus, and my hairy uncle, the Baboon, and including the Bi-Coloured-Python-Rock-Snake, with the scalesome, flailsome tail, just up the bank, who spanks harder than any of them; and so, if it’s quite all the same to you, I don’t want to be spanked any more.”

Rudyard Kipling, Just So stories
„’Tschuldigung”, sagte das Elefantenkind sehr höflich, „mein Vater hat mir eins übergezogen, und meine Mutter hat mir eins übergezogen, nicht zu vergessen meinen langbeinigen Onkel, den Strauß, und meine schlanke Tante, die Giraffe, die so furchtbar stark treten kann, oder meinen fetten Onkel, das Nilpferd, oder meinen wolligen Onkel , den Pavian, und schließlich die doppelgeschekcte klappernde Riesenschlange mit dem schlüpfrigen Schwanz, die nicht weit von hier auf dem Felsen liegt und die stärker zuschlägt als alle anderen. Dies sage ich nur – falls es dir nicht unangenehm ist –, weil ich jetzt nichts mehr übergezogen haben möchte.”

So setzt er jetzt seine ganze Familie um einer Generation zurück. Der Vater bekommt “Opa”, die Mutter “Oma”, und die Brüder und Schwester eine ganze Reihe von Onkel und Tanten.
Und die Schwäger und Schwägerinnen und die erdrückenden Neffen? Er einfacht verschwindet sie, sorgfältig ein Foto der „engen” Familie auswählend. Gott bewahre uns vor der Verwandtschaft.

Der Fotograf, der um mit den dreizig Jahren der Eltern zu berechnen kam, gab jedem den Ort aufgrund seines Ranges: der Patriarch in der Mitte, die Mutter und die älteste Tochter, die schrekliche Gigina auf beiden Seiten der Gruppe, um die Teilung der Macht zwischen ihnen zu materialisieren (zweiter Klasse von Macht, sowieso). Die Knaben auf beiden Seiten des Vaters, der Erbe in der Mitte, bereits den Thron mit seinen Händen haltend, die Mädchen senkrecht ausgerichtet. Der Jüngste brecht die Symmetrie des Ganzen.
Der Jüngste, unter Androhung von Maulschellen, falls er während der Belichtungszeit bewegen würde.

Der Zeuge

Das Hermann Café im Erdgeschoss des Kasinos von Kőbánya um 1910

Erinnern Sie sich an den Post über das Kasino von Kőbánya, das ehemalige Zentrum des kulturellen Lebens meiner industriellen Heimnachbarschaft, das im Jahr 1999 hundert Jahre alt geworden wäre, hätte man es nicht aufgesprengt – absolut unnötig, nur mit der Absicht der Abschaffung der Vergangenheit – in der großen Welle des sozialistischen Wohnungsbaues?

Glücklicherweise gibt es Menschen, die sich noch daran erinnern. Ich erhielt diesen Brief von Gábor Farkas vor ein paar Tagen:

„Vor langer Zeit las ich deinen Post, wo dieses Foto erschien. Und du schriebst über den Baum auf dem Bild: „Und es gibt noch auch einer von den krummen Bäumen.”

Dieses Jahr ging ich nach Kőbánya zu arbeiten, und ich beschloss, ein Foto des Baumes ohne Laub zu nehmen. Die Zeit ist jetzt gekommen. Ich lege das Foto bei, vielleicht interessiert es dich.

Wenn die Anzeige des Jahres in der URL gut ist, denn wurde das vorhergehende Foto vor etwa fünfzig Jahren gemacht. In dieser Zeit hat der Baum nicht so dick geworden. Ich habe keine tiefere Forschung gemacht, aber ich denke dass es ein Celtis, das heißt, ein Zürgelbaum ist.”


1903, er ist schon wahrscheinlich da, rechts von der Ecke des Kasinos


1963, mit dem Kasino im Hintergrund

2013, mit der sozialistischen Wohnsiedlung im Hintergrund

Zwei Feste



Diesem Post sollte ich eigentlich den Titel „Die Macht der Bilder” geben, denn das ist es, worüber ich reden wollte.

Oder welchen Titel würden Sie zu einem Post geben, der nur die beiden Fotos von diesen zwei verschiedenen russischen Neujahrs-Abendessen aufeinander veröffentlichen würde?

Fühlen Sie die in einem Bild vertretene Welt für besser als die andere? Möchten Sie lieber in der einen oder der anderen leben? Sehen Sie irgendwelche moralische (Rück)entwicklung in ihrer Reihenfolge, und wenn ja, welche?

Welche logische Zusammenhang projizieren Sie zwischen den beiden Bildern? Eine zeitliche? Es war so, es wurde so? Wenn ja, was für eine Geschichte erzählen sie? Oder eher eine Parallele, einen Kontrapunkt? Während diese so, diejenige so? Wenn ja, welches Bild stellt diese und welches diejenige dar?


Und was denken Sie, wenn jemand die zwei Bilder in einem Post auflegte, was würde er durch sie suggerieren wollen?

Und jetzt schauen Sie mit absolut frischen Augen an zwei völlig unterschiedliche Bilder über zwei absolut unterschiedliche Feste.



Versetzen Sie sich die gleichen Fragen.

Beeinflusst die Reihenfolge der Bilder Ihre Antworten? Identifizieren Sie sich eher mit demjenigen, das Sie erst sehen, oder mit dem, das als Kontrapunkt oder Pointe darauf folgt? Hat dasjenige, das früher mehr sympathisch war, jetzt fremder geworden?

Die einfache Grammatik, die im Auftischen jedes Bildes, das um Ihre Augen vorgestellt wird, anwesend ist, und die nicht nur dafür so überzeugend ist, weil sie weitgehend von unbewussten Übereinkommen geregelt ist, sondern auch weil sie in der Tat von uns hergestellt ist, ist in der heutigen Zeit besonders nützlich explizit zu machen.

Мин нет


In den achtziger Jahren, als ich begann die Stadt zu bewandern, noch gab es viele von ihnen, auch wenn in den Putz eingeschlagen oder durch der Malerei überfärbt. Mit einer Ausschnitt-Muster oder mit Hand bemalt, mit oder ohne den Namen des Kontrolloffiziers, aber immer mit der obligatorischen Formel: ПРОВЕРЕН – МИН НЕТ, geprüft, minenfrei. Das auffälligste auf der linken Seite des gotischen Haupteingang der Matthias-Kirche, vom 14. Februar 1945, einen Tag nach der Bemächtigung der Festung Buda, in den achtziger Jahren offenbar neugemalt. Genau vor zwanzig Jahren, auf dem ersten TV-Interview meines Lebens konnte ich dem Stab noch mehr als ein Dutzend zeigen.

Als ich vor zwei Jahren sie an Wang Wei zeigen wollte, gab es nur zwei von ihnen übrig. Die Matthias-Kirche wurde restauriert, die Ecke der Vörösmarty Straße an Almássy Platz neu verputz, die Kunststein-Bekleidung von Csanády Straße poliert. Nur das Miethaus der Ericsson Pensionskasse aus den 30er Jahren an der Ecke des Hunyadi Platzes hat seine Inschrift bewahrt, sowie die umgeschossene Steinjungfrau am Anfang der Ilka Straße, die in der Deckung von Büsche nur im Winter gesehen werden kann.







Gestern, am ersten Tag des neuen Jahres habe ich in der Industriezone von Kőbánya, in der Arbeitersiedlung Pongrácz fotografiert, neben der ich aufgewachsen bin. Beim Betreten der Siedlung, eine noch nie gesehene und doch vertaute Inschrift empfing mich an der Seite des ersten Hauses. So munter und deutlich, als ob es gerade auf den Ziegeln gemalt wäre: der Bogen des Fensters hat es vor Wetter geschützt. Und so natürlich, als ob sie nur eine der vielen Graffitis der Siedlung wäre. Für Jahrzehnten hat sie geduldig gewartet, dass ich zurückkomme und sie bemerke.




Wenn Sie andere ähnliche kennen, schreiben Sie uns!

Vollschirm

In Dresden, auf der Straßenfassade der Gemäldegalerie Alten Meister, und anderswo in der 2000en Jahren